Zwischen jetzt und immer
das sein?«
»Du kannst antworten oder passen. Deine Entscheidung.« Er schob die Hände in die Hosentaschen.
Er wusste, ich würde nicht passen. Und ich wusste es auch. Wir nahmen das Spiel beide ungeheuer ernst, wollten beide gewinnen. Aber es ging inzwischen weit darüber hinaus, zumindest für mich. Mir gefiel es einfach, Wes auf diese Weise kennen zu lernen, lauter unzusammenhängende Informationen und Details über ihn einzusammeln. Für mich waren das einzelne Puzzleteile, die ich mir in aller Ruhe anschauen und überlegen konnte, wie sie ins Gesamtbild passten. Falls einer von uns beiden gewann, war das Spiel vorbei. Deshalb antwortete ich tapfer weiter.
»Es war in der Fünften.« Wir bogen in den Gang mit Papierprodukten ein. »Im Dezember. Barbara Feltons Mutter – Barbara war eine Mitschülerin von mir – kam in unsere Klasse, um uns etwas über das jüdische Chanukka-Fest zu erzählen. Dabei verteilte sie als Beispiel für etwas, das man sich an Chanukka schenkt, Schokoladentaler.«
»Und das war ekelig?«
Ich funkelte ihn an. »Nein, der Teil kommt noch.« Weil Wes sich selbst immer so präzise ausdrückte, kein Wort zu viel oder zu wenig sagte, drängte er mich jedes Mal, auf den Punkt zu kommen. Worauf ich allerdings genau entgegengesetzt reagierte: Ich ließ mir Zeit und schmückte meine Antworten absichtlich aus. Das gehörte alles zum Spiel. »Mrs Felton verteilt also Schokoladentaler und erklärt uns, was eine Menora ist, du weißt schon, der siebenarmige Leuchter. So weit, so gut.«
Wir standen mittlerweile vor dem Küchenpapier. Wes holte eine Achterpackung aus dem Regal, gab sie mir, klemmte sich eine weitere Achterpackung unter den Arm und wir machten uns auf den Weg zur Kasse.
»Aber dann kam unsere Lehrerin, Mrs Whitehead, zu Norma Piskill, die neben mir saß, und fragte, ob alles inOrdnung sei. Norma nickt, aber als ich sie zufällig genauer anschaue, sehe ich, dass sie ein bisschen grün im Gesicht ist.«
»Uh . . .« Wes schnitt eine Grimasse.
»Genau.« Ich seufzte. »Ehe ich überhaupt begreife, was los ist, versucht Norma Piskill aufzustehen, schafft es aber nicht mehr. Stattdessen kotzt sie mich von oben bis unten voll. Das ganze Zeug tropft an mir runter. Und weißt du, was sie dann macht? Sie kotzt gleich noch mal. Wieder auf mich, natürlich.«
»Igitt.«
»Du hast gefragt«, sagte ich lässig.
»Stimmt.« Wir stellten uns an der Kasse an. »Du bist dran mit Fragen.«
»Ja, ich weiß.« Ich musste kurz überlegen. »Worüber machst du dir am meisten Sorgen?«
Wieder dachte Wes gründlich nach, bevor er antwortete. Von Kotze zu tiefen Erkenntnissen über einen selbst – so lief das eben, wenn man Wahrheit spielte. Man ließ sich entweder mittreiben oder es gleich bleiben.
»Bert«, antwortete er schließlich knapp.
»Bert.«
Er blickte mich an. »Ich fühle mich für ihn verantwortlich. Ist wahrscheinlich sowieso typisch für große Brüder. Aber seit meine Mutter nicht mehr da ist . . . sie hat es nie offen ausgesprochen, aber ich weiß, dass sie sich auf mich verlässt. Sie hätte gewollt, dass ich mich um ihn kümmere. Er ist so . . .«
»Wie denn?«
Der Kassierer hielt unser Küchenpapier unter den Scanner.
Wes zuckte die Schultern. »So . . . so Bert eben, du weißtschon. Bert steht immer unter Strom, nimmt alles total ernst. Zum Beispiel diese Sache mit dem Jüngsten Gericht, also dass das Ende der Welt unmittelbar bevorsteht und so Theorien. Gerade Kids in seinem Alter steigen da oft aus; sie kapieren einfach nicht, wie er drauf ist, kommen nicht damit klar, wie leidenschaftlich und emotional er ist. Bei Bert gibt’s keine halben Sachen, keine halben Gefühle. Alles ist entweder schwarz oder weiß. Er ist ein sehr intensiver Mensch. Vielen Leuten wird das zu viel.«
»So schlimm finde ich es gar nicht«, sagte ich, während Wes dem Kassierer einen Zwanzigdollarschein gab und sein Wechselgeld zurückbekam. »Er ist einfach . . .« Ich stockte wie zuvor Wes, fand auch nicht gleich das richtige Wort, um Bert zu beschreiben.
»Bert«, schlug Wes vor.
»Genau.«
Und so ging es weiter. Eine Frage nach der anderen, eine Antwort nach der anderen. Jeder hielt uns für total übergeschnappt. Doch ich fragte mich allmählich, wie ich es sonst – ohne Wahrheitsspiel, meine ich – bisher geschafft hatte, einen Menschen überhaupt näher kennen zu lernen. Denn eins wird mehr als deutlich, wenn man Wahrheit spielt: wie wenig man über andere
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