Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zwischen jetzt und immer

Zwischen jetzt und immer

Titel: Zwischen jetzt und immer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Dessen
Vom Netzwerk:
über den Rand des Daches spähen wollte, mich aber in letzter Sekunde zurückhielt.
    »Lieber nicht«, meinte Delia schließlich.
    »Ja, hör bloß auf«, pflichtete Monica ihr bei.
    »Wieso nicht? Leute, in zwei Wochen mache ich meinen Führerschein und mit Lernerlaubnis fahre ich schon seit einem Jahr durch die Gegend. Trotzdem brauche ich dringend mehr Fahrpraxis, bevor ich mir mein Bertmobil zulege.«
    »Bitte, Bert, du sollst es nicht mehr so nennen«, sagte Wes. Nicht laut, aber deutlich.
    Delia seufzte. »Normalerweise hätte ich nichts dagegen, dass du fährst, Bert. Aber es war ein langer Tag, ich will nur noch heim. Beim nächsten Mal, okay? Heute Abend fährt dein Bruder, bitte. Einverstanden?«
    Wieder herrschte Schweigen. Irgendwer hustete.
    »Gut«, meinte Bert. »Ist ja gut.«
    Ich hörte, wie erst eine Wagentür zufiel, dann eine zweite, und beugte mich vor. Wes und Bert standen hinten neben dem Lieferwagen. Schmollend schabte Bert mit dem Fuß über den Boden. Wes wartete, ohne sich zu rühren.
    »Ist doch halb so schlimm«, meinte er schließlich und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. In dem Moment kapierte ich endgültig, dass sie Brüder waren. Und fand die Ähnlichkeit   – gleiche Hautfarbe, dunkle Haare, dunkle Augen   – zwischen ihnen verblüffend, obwohl sie so unterschiedlich groß waren und sehr unterschiedliche Figuren hatten.
    »Nie darf ich fahren«, sagte Bert. »Nie. Letzte Woche durfte selbst Miss Monoton ans Steuer, aber ich nie. Nie.«
    »Du kriegst schon noch genug Gelegenheit zum Üben«, erwiderte Wes. »Und wenn du nächste Woche ein eigenes Auto bekommst, kannst du sowieso fahren, wann du willst. Aber jetzt reite nicht weiter auf dem Thema rum. Komm, es ist spät, geh uns nicht auf den Keks, bitte.«
    Bert stopfte die Hände tief in die Hosentaschen. »Wie du willst.« Latschte lustlos um den Lieferwagen herum. Wes setzte sich ebenfalls in Bewegung und klopfte Bert beim Gehen auf den Rücken. Der sagte: »Übrigens, da war doch heute Abend ein Mädchen in der Küche, die Delia geholfen hat . . .«
    Ich erstarrte zur Salzsäule.
    »Meinst du das Mädchen, das du aus Versehen erschreckt hast?«
    »Jajaja, darum geht’s jetzt gar nicht«, sagte Bert betont deutlich. »Hast du sie eigentlich erkannt? Ich meine, weißt du, wer das ist?«
    »Nö.«
    Bert öffnete die Wagentür. »Doch, du kennst sie. Ihr Vater . . .«
    Ich wartete. Obwohl ich wusste, was jetzt kam, hörte ich wie gebannt zu. Musste mir die Worte anhören, die nun folgen würden. Die Worte, die mich definierten, mich von allen anderen unterschieden, mich ausgrenzten.
    ». . . war unser Coach in der Grundschule, als wir für die Juniorenwettkämpfe trainierten«, fuhr Bert fort. »Unser Team hieß
Lakeview-Blitze
. Weißt du nicht mehr?« Er stieg beim Reden ein.
    Wes nahm Bert den Wagenschlüssel aus der Hand und antwortete: »Doch, klar. Trainer Joe, stimmt’s?«
    Stimmt, dachte ich und verspürte einen Stich in der Brust.
    »Trainer Joe«, wiederholte Bert zustimmend und schloss seine Tür. »War’n guter Typ.«
    Wes ging zur Fahrertür, öffnete sie, stieg jedoch nicht sofort ein, sondern schaute sich noch einen Moment um, als wollte er alles in sich aufnehmen. Erst dann kletterte er auf den Fahrersitz und zog die Tür hinter sich zu. Ich muss zugeben, ich war verblüfft. So sehr hatte ich mich schon an mein Image als »das Mädchen, das seinen Vater sterben sah« gewöhnt, dass ich es fast vergessen hatte: mein Leben davor und die Tatsache, dass es ein Leben davor gegeben hatte.
    Als der Motor angelassen wurde, lehnte ich mich in den Schatten des Dachs zurück. Der Lieferwagen fuhr die Auffahrt hinunter. Bevor er auf die Straße abbog, leuchteten kurz die Bremslichter auf. Auf die Seite des Wagens war mit dicken schwarzen Pinselstrichen ein großes Gabelbein gemalt   – eine schwarze Wünschelrute, die einem chinesischenSchriftzeichen glich. Es fiel einem schon aus der Ferne auf, selbst wenn man nicht sofort wusste, was es bedeutete. Ich sah dem Lieferwagen, dem Zeichen, der Wünschelrute nach, wie er die Straße entlang über den Hügel fuhr. Bis zum Stoppschild. Bis er aus meinem Blickfeld verschwand.

Kapitel 3
    Ich konnte nicht schlafen.
    Am nächsten Tag würde ich mit der Arbeit in der Bibliothek anfangen. Mir ging’s so wie jedes Mal vor dem ersten Schultag nach den Ferien   – Nervosität, Anspannung, Lampenfieber. Andererseits hatte ich mit dem Schlafen schon immer Schwierigkeiten gehabt

Weitere Kostenlose Bücher