Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zwischen jetzt und immer

Zwischen jetzt und immer

Titel: Zwischen jetzt und immer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Dessen
Vom Netzwerk:
europäischen Akzent. Den hatte sie sich in Paris zugelegt; ihr Vater hatte nämlich an der Sorbonne promoviert, weswegen ihre Familie ein paar Jahre dort gewohnt hatte. Keine der beiden hatte ich je in einem Kleidungsstück mit Falten an der falschen Stelle oder gar einem Fleck gesehen. Sie benutzten keine umgangssprachlichen Ausdrücke. Sie waren Jason in weiblich.
    »Seit Sommerferien sind, ist nicht mehr viel los.« Amanda strich den Rock über ihren langen, weißen Beinen glatt. »Hoffentlich gibt es genug für dich zu tun.«
    Da ich nicht wusste, was ich darauf antworten sollte, lächelte ich mein schönstes Alles-okay-Lächeln, drehte mich um und starrte die Wand gegenüber der Infotheke an. In meinem Rücken begannen Amanda und Bethany sich über irgendeine Ausstellung zu unterhalten, selbstverständlich in gedämpftem, kultiviertem Ton. Ich warf einen Blick auf dieUhr. Fünf nach neun. Noch fünf Stunden und fünfundfünfzig Minuten.
    Ungefähr drei Stunden später, gegen Mittag, hatte ich eine einzige Frage beantwortet: Wo die Toilette sei. (Das passierte mir also nicht nur daheim: Anscheinend sehe ich einfach so aus, als wüsste ich, wo die Toilette ist; immerhin besser als gar nichts.) Dabei war durchaus was los gewesen bei uns an der Infotheke: ein Problem mit einem der Kopierer, eine etwas kniffelige Frage wegen einer obskuren Fachzeitschrift, sogar jemand, der sich nach dem Online-Lexikon erkundigte, das eigentlich Jasons Domäne war und in dessen Benutzung er mich extra eingearbeitet hatte. Doch selbst wenn Amanda und/oder Bethany gerade beschäftigt waren und die Besucher der Bibliothek sich mit ihren Anliegen direkt an mich wandten, sprang eine der beiden auf und sagte eifrig: »Einen kleinen Moment bitte, ich helfe Ihnen gleich.« Und zwar in einem Ton, der mehr als deutlich machte, dass mich zu fragen reine Zeitverschwendung wäre. Beim ersten, zweiten, dritten Mal dachte ich noch, sie wollten mir netterweise Zeit geben, um mich einzugewöhnen. Doch allmählich wurde mir klar, dass ich in ihren Augen schlicht und einfach nicht hierher gehörte.
    Punkt zwölf stellte Amanda ein Schild vor sich auf die Theke   – AB EINS WIEDER BESETZT   – und holte eine wiederverschließbare Frischhaltetüte mit einem Bagel darin aus ihrer Handtasche. Synchron dazu zog Bethany die Schublade neben sich auf und entnahm ihr einen Apfel sowie einen Ginkgo-Müsliriegel.
    »Wir würden ja gern mit dir zusammen Pause machen«, sagte Amanda. »Aber wir müssen noch für den College-Vorbereitungskurs lernen. Bald sind Aufnahmeprüfungen. Sei bitte in einer Stunde wieder hier.«
    »Ich kann auch hier bleiben«, schlug ich vor, »und um eins Pause machen, dann wäre der Infoschalter durchgehend besetzt.«
    Sie starrten mich an, als hätte ich soeben verkündet, ich könne das Grundprinzip der Quantenphysik erklären und gleichzeitig mit mehreren Kegeln auf einmal jonglieren.
    »Nein, danke.« Amanda wandte sich bereits ab, um durch die halbe Tür auf die andere Seite der Theke zu gehen. »So ist es besser.«
    Sie verschwanden in einem angrenzenden Raum. Ich ging nach draußen, über den Parkplatz, zu einer der Bänke am Brunnen. Nahm das Erdnussbutter-Marmeladen-Brot, das ich mir mitgebracht hatte, aus meiner Tasche, legte es auf meinen Schoß und atmete ein paar Mal tief durch. Aus irgendeinem Grund hatte ich plötzlich das Gefühl, ich müsste jeden Moment losheulen.
    Eine knappe Stunde lang saß ich auf der Bank. Warf mein Butterbrot weg. Ging wieder hinein. Obwohl es erst fünf vor eins war, saßen Bethany und Amanda bereits wieder hinter der Infotheke, wodurch natürlich sofort der Eindruck entstand, ich hätte mich verspätet. Während ich mich zwischen ihren Stühlen durchmanövrierte, um zu meinem Platz zu gelangen, merkte ich, wie ihre Blicke auf mir ruhten.
    Der Nachmittag schleppte sich endlos dahin. Nach wie vor herrschte wenig Publikumsverkehr und mich beschlich das Gefühl, mein Gehör wäre plötzlich schärfer als sonst, denn ich hörte auch noch das leiseste Geräusch: das Summen der Neonröhren über mir an der Decke, das Quietschen von Bethanys Stuhl, wenn sie sich bewegte, das Geklapper der Tasten, wenn jemand den PC mit der Online-Kartei um die Ecke benutzte. An Stille war ich gewöhnt, aber dieseStille fühlte sich anders an als normal, leer und einsam. Statt hier in der Bibliothek hätte ich im Büro meiner Mutter jobben oder mit einem Pfannenwender Krabbenpastetchen von Blech zu Tablett zu

Weitere Kostenlose Bücher