Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zwischen jetzt und immer

Zwischen jetzt und immer

Titel: Zwischen jetzt und immer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Dessen
Vom Netzwerk:
und wachte bei jeder Kleinigkeit auf. Wodurch das, was am Todestag meines Vaters geschehen war   – als er in mein Zimmer kam und vergeblich versuchte mich zu wecken   –, noch merkwürdiger wurde, als es ohnehin schon war. Denn ausgerechnet an dem Morgen hatte ich tief und fest, ja fast bewusstlos geschlafen.
    Seitdem fürchtete ich mich geradezu vorm Schlafen. Ich war mir sicher, dass wieder etwas Furchtbares geschehen würde, wenn ich mir auch nur für einen Moment gestattete, nicht wenigstens unterschwellig wach zu sein. Deshalb ließ ich in der Regel nur noch so eine Art Wegdämmern zu. Und wenn ich mal fest genug schlief, um zu träumen, drehten sich meine Träume unweigerlich ums Laufen.
    Mein Vater war ein begeisterter Läufer gewesen. Schon früh hatte er meine Schwester und mich in eine Laufgruppe für Kinder mit dem schönen Namen
Lakeview-Blitze
gesteckt; und wenn er selbst zu seinen 500 0-Meter -Läufen startete, was er regelmäßig tat, meldete er uns beide mit an,natürlich bei den Junioren. Ich erinnere mich noch gut an mein erstes Wettrennen: Ich war sechs und stand mehrere Reihen hinter der Startlinie zwischen lauter Schultern und Rücken eingezwängt, weil ich für mein Alter ziemlich klein war. Caroline hatte sich natürlich nach vorne durchgedrängelt, wodurch sie mir und dem Rest der Welt demonstrieren wollte, dass sie mit ihren zehn, beinahe elf Jahren nicht mehr nach hinten zu den Babys gehörte. Die Startpistole ging los. Mit einem Mal stürmten alle gleichzeitig vorwärts. Das Geräusch von Turnschuhen auf Asphalt war nahezu ohrenbetäubend und ich hatte im ersten Moment das Gefühl, davongetragen zu werden, denn meine Füße berührten kaum den Boden. Die Zuschauer rechts und links der Straße glitten verschwommen an mir vorbei, ihre Gesichter lösten sich in der Geschwindigkeit auf. Mein Blick hielt sich am Pferdeschwanz des Mädchens vor mir fest. Denn das war alles, was ich noch sehen konnte: Pferdeschwanz, geripptes blaues Haargummi. Irgendein Junge, der viel größer war als ich, stieß von hinten gegen mich, und während der zweiten Runde bekam ich Seitenstechen, doch plötzlich hörte ich die Stimme meines Vaters.
    »Macy! Du machst das ganz toll! Weiter so, du schaffst es!« Mit acht war mir bewusst, dass ich eine gute Läuferin war, schneller als all die anderen Kinder, mit denen ich um die Wette rannte. Ich wusste es, noch bevor es mir das erste Mal gelang, schon in der ersten Runde die Kinder zu überholen, die älter waren als ich. Wusste es sogar, bevor ich mein erstes und von da an jedes Rennen gewann. Wenn ich erst einmal richtig in Fahrt war und der Wind in meinen Ohren pfiff . . . eines Tages würde ich einfach abheben und fliegen. Noch einmal tief durchatmen, noch ein entschlossener Schritt   – und ich würde fliegen. So fühlte es sich an.
    Zu dem Zeitpunkt fuhr ich längst allein mit meinem Vater zu den Wettkämpfen. Meine Schwester hatte das Interesse am Laufen ungefähr im siebten Schuljahr verloren, nämlich als sie entdeckte, dass der Höhepunkt für sie bei einem Rennen nicht die Ziellinie nach hundert Metern war. Nicht? Was denn dann? Na, nach dem Rennen mit den Typen aus der Jungenmannschaft flirten, was sonst? Laufen machte ihr nach wie vor Spaß, aber nur wenn ihr jemand   – nachlief. Ansonsten fand sie es ziemlich überflüssig.
    Deshalb bildeten mein Vater und ich das Wettkampfteam der Familie. Wir standen früh auf, um unsere Standardlaufstrecke von acht Kilometern zurückzulegen; saßen samstagmorgens in der Küche, mümmelten Energieriegel, versorgten einander mit Eisbeuteln zur Kühlung unserer geschundenen Gelenke, tauschten Leidensgeschichten über schmerzende Knie und Wadenkrämpfe aus. Wir hatten viel gemeinsam, aber das Laufen war das Beste. Es war der Teil von ihm, der mir ganz allein gehörte. Auch deswegen hätte ich an jenem Morgen bei ihm sein sollen.
    Doch ab da änderte sich alles. Auch das Laufen. Noch wenige Tage zuvor hatte ich mir vorgenommen, meine ohnehin guten Zeiten zu toppen, aber plötzlich zählte das alles nichts mehr. Es gab eine Zeit, einen Rekord, der war nicht zu brechen . . . Deshalb ließ ich das Laufen von da an bleiben.
    Und nicht nur das. Ich ging oder fuhr nie mehr an der Kreuzung von Willow Street und McKinley Road vorbei, wo es passiert war, nahm den Umweg jedoch gern in Kauf   – Hauptsache, ich musste nicht mehr an jener Stelle vorbei. Das mit dem Umweg war kein Problem. Meine Freunde vom Laufteam dagegen

Weitere Kostenlose Bücher