Zwischen jetzt und immer
schon. Sie kümmerten sich rührend um mich – vor, während, nach der Beerdigung – und warenziemlich enttäuscht, als unser Trainer ihnen erzählte, ich sei freiwillig aus der Schulmannschaft ausgeschieden. Aber als ich ihnen dann auch noch im Unterricht oder auf dem Flur offen aus dem Weg ging, waren sie nicht nur enttäuscht, sondern gekränkt. Niemand schien zu begreifen, dass es außer mir – und meiner Mutter – keinen Menschen mehr gab, auf den ich mich verlassen konnte. Verlassen insoweit, als dass er mich eben nicht nach meinem Vater fragte, mich bemitleidete oder den Das-arme-Mädchen-Gesichtsausdruck aufsetzte. Denn das ertrug ich einfach nicht, machte meine Welt daher immer kleiner und enger, schloss jeden aus, der mich kannte oder sich mit mir anfreunden wollte. Und hatte keine Ahnung wie ich sonst damit hätte umgehen sollen.
Also sammelte ich sämtliche Pokale, Trophäen, Plaketten ein und verpackte sie ordentlich in Kartons. Als hätte sich jener Teil meines Lebens – mein Läuferleben – in Luft aufgelöst. Wenn man bedenkt, wie viel mir dieses Leben einmal bedeutet hatte, ging es fast zu leicht.
Mittlerweile lief ich nur noch in meinen Träumen. Doch dabei bahnte sich jedes Mal eine Katastrophe an oder ich hatte etwas Wichtiges vergessen und meine Beine fühlten sich an wie Wackelpudding, waren nicht stark genug, um mich zu tragen. Egal was sonst passierte (und es gab die Träume in zahlreichen Variationen): Am Ende sah ich jedes Mal in der Ferne eine Ziellinie vor mir, die ich nicht erreichen konnte, wie viele Kilometer ich auch rannte.
»Ach ja, richtig.« Bethany musterte mich durch ihre schmale, randlose Brille. »Du fängst ja heute bei uns an.«
Ich stand vor ihr, hielt meine Tasche umklammert und konnte plötzlich an nichts anderes mehr denken als an denFingernagel, den ich mir gerade auf dem Parkplatz vor der Bibliothek beim Abschnallen des Sicherheitsgurts abgebrochen hatte. Dabei hatte ich mir mit dem Styling für diesen ersten Arbeitstag solche Mühe gegeben: T-Shirt gebügelt, Scheitel schnurgerade gezogen, Lippenstift aufgetragen, weggewischt, wieder aufgetragen. Doch dieser abgebrochene, zerstörte Fingernagel ruinierte alles; er fiel bestimmt sofort auf, da konnte ich ihn noch so verschämt in meiner Handfläche verstecken.
Bethany rutschte auf ihrem Stuhl zurück und stand auf. »Du kannst dich da hinten hinsetzen.« Sie öffnete die halbe Tür, die auf Kniehöhe zwischen uns angebracht war, damit ich hinter die Theke treten konnte. »Aber nicht auf den roten Drehstuhl, da sitzt Amanda. Auf dem daneben, am anderen Ende, würde ich vorschlagen.«
»Danke.« Ich ging zu dem Stuhl, zog ihn ein Stück von der Theke weg, damit ich mich setzen konnte, und verstaute meine Tasche neben meinen Füßen. Einen Augenblick später kündigte das Quietschen der Tür an, dass jemand hereinkam: Amanda, Bethanys beste Freundin und stellvertretende Schulsprecherin. Sie war groß und hatte lange, immer zu einem ordentlichen Zopf geflochtene Haare. Dieser Zopf, der ihr weit den Rücken hinunterhing, saß immer so perfekt, dass ich mir während unserer endlosen Schülermitverwaltungs-Besprechungen manchmal die Zeit damit vertrieb, darüber nachzudenken, ob der Zopf gar nicht echt, sondern angesteckt war wie diese komischen Klemmschlipse. Oder ob sie ihn vielleicht gar nicht entflocht, sondern damit schlief.
»Hallo, Macy«, sagte Amanda kühl und setzte sich kerzengerade auf ihren roten Stuhl. Sie sah aus wie ein Modell für vorbildliche Sitzhaltung: Schultern leicht zurück, Kinnleicht erhoben. Vielleicht half ja der Zopf dabei. »Ich hatte vergessen, dass du heute anfängst.«
»Äh . . . mmm.« Ich nickte etwas lahm. Die beiden schauten mich indigniert an. Das Äh und das Mmm schwebten vernuschelt zwischen uns in der Luft, als wären sie mit einem nassen Schwamm hingewischt worden. Deshalb sagte ich noch einmal klar und deutlich »Ja«.
Ich arbeitete hart, um perfekt zu werden – Betonung auf Arbeit –, während diese Mädchen längst perfekt waren. Bethany hatte kurze rote Haare, die sie sich immer hinter die Ohren kämmte, und kleine, sommersprossige Hände mit gerade abgefeilten Nägeln. Als ich in Englisch ein Schuljahr lang mal neben ihr saß, hatte ich ihr immer ganz fasziniert beim Schreiben zugeschaut, denn ihre Buchstaben sahen aus wie gedruckt. Sie war ein eher ruhiger Typ, während Amanda gern und viel redete, allerdings mit einem kultivierten,
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