Zwischen jetzt und immer
doch ein wenig zu viel; deshalb schaltete ich den Fernseher im Wohnzimmer ein, ging auf mein Zimmer, machte das Radio an und drehte so lang am Suchknopf, bis ich nach ein paar Musikkanälen einen Sender fand, wo gerade jemand einen endlosen Vortrag über wissenschaftlichen Fortschritt im 21. Jahrhundert hielt. Doch trotz des Stimmengewirrs konnte ich nicht leugnen, dass ich allein war. Mutterseelenallein.
Wobei ich nach einem Blick auf meine E-Mails zunächst dachte, ich hätte mich geirrt und wäre gar nicht so allein. Doch schon beim Lesen der zweiten Zeile wurde mir klar, dass selbst eine Horrorwoche wie die gerade vergangene noch viel, viel schlimmer werden konnte.
Macy,
ich habe mir mit der Antwort auf deine letzte E-Mail Zeit gelassen, weil ich dir etwas Wichtiges zu sagen habe und mir absolut sicher sein wollte, dass ich es auch klar und deutlich ausdrücken kann. Schon seit längerem habe ich den Eindruck, unsere Beziehung wird ein wenig zu eng; deshalb habe ich in den letzten Tagen gründlich darüber nachgedacht, was wir jeweils brauchen und ob wir es einander überhaupt geben können. Du scheinst zunehmend abhängig von mir zu werden, was ich aus dem letzten Satz deiner letzten Mail schließe. Und obwohl du mir wirklich nicht egal bist, sah ich mich dadurch gezwungen meine Rolle in dieser Beziehung zu überdenken und mir zu überlegen, wie sehr ich mich darauf einlassen kann und will.
Wie gesagt, du bist mir nicht egal, im Gegenteil, ich mag dich. Doch unser letztes Schuljahr liegt vor uns. Eine Zeit, die für mein weiteres Leben entscheidend sein wird, sowohl was mein Studium und meine beruflichen Ziele als auch was mein Engagement auf den diversen anderen Gebieten betrifft. All das steht im Mittelpunkt, darauf muss ich mich konzentrieren und deswegen kann ich mich auf nichts anderes wirklich einlassen, vor allem nicht auf eine intensive Beziehung.
Im Übrigen gilt meiner Meinung nach für dich das Gleiche. Wenn ich all das bedenke, komme ich zu dem Schluss, wir sollten uns gegenseitig eine Pause gönnen und uns vorübergehhend trennen, zumindest bis ich am Ende der Sommerferien wieder da bin. Auf diese Weise haben wir beide genügend Zeit, um darüber nachzudenken, was wir wollen und ob wir das Gleiche wollen. Im August können wir dann gemeinsam beschließen, ob wir wieder zusammenkommen oder ob es für uns beide das Beste ist, wenn wir endgültig auseinander gehen.
Ich bin zuversichtlich, dass du mit diesem Vorschlag einverstanden bist und ihn ebenso vernünftig findest wie ich. Ich glaube fest, es wäre die optimale Lösung für uns beide.
Ich las die E-Mail einmal von Anfang bis Ende durch. Schock. Las sie noch einmal. Immer noch Schock. Das kann gar nicht sein, ich träume, dachte ich.
Aber es war kein Traum, sondern die Wirklichkeit; als hätte ich einen zusätzlichen Beweis dafür gebraucht, dass die Welt sich weiterdrehte, drangen quer durch den Raum aus dem Radio gerade die neuesten Schlagzeilen an mein Ohr. In irgendeinem Balkanstaat war Krieg ausgebrochen. Die Börsenkurse sanken. Verhaftung eines Fernsehstars. Ich saß vor dem PC und starrte auf das Flimmern des Bildschirms, starrte auf die Worte. Nur langsam – genau wie damals, als Jason mir zum ersten Mal aus
Macbeth
vorgelesen hatte – sickerte ihre Bedeutung in mein Bewusstsein. Ihre grauenvolle Bedeutung.
Pause. Vorläufige Trennung. Ich wusste, was das bedeutete: die unmittelbare Vorstufe zur endgültigen Pause. Zur Pause ohne Ende, zur Trennung ohne Pause. Aus, Schluss, vorbei. Egal was die Worte, was Sprache bedeuteten – ich war raus aus dem Spiel, ganz klar. Und das nur, weil ich ein einziges Mal
Ich liebe dich
geschrieben hatte. Ich dachte, wir hätten diese drei Worte in den letzten Monaten öfter zueinander gesagt. Vielleicht nicht ausgesprochen, aber gemeint. Doch offensichtlich hatte ich mich geirrt.
Plötzlich überfiel mich die Einsamkeit wie ein Schlag in die Magengrube. Ich lehnte mich auf meinem Schreibtischstuhl zurück, so dass meine Hände wie leblos von der Tastatur rutschten. Noch einmal, noch deutlicher wurde mirbewusst, wie leer mein Zimmer war, unser Haus, die Stadt, die Welt – alles leer. Ich kam mir vor, als stünde ich auf der anderen Seite eines Objektivs und sähe zu, wie die Kamera allmählich zurückfuhr und ich – im Bild – kleiner wurde, immer kleiner, kleiner, kleiner, bis ich nur noch ein Fleck war, ein Staubkorn. Und schließlich ganz weg.
Ich musste
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