Zwischen jetzt und immer
Mädchens.
»Deshalb habe ich die Konsequenzen gezogen. Was allerdings dazu geführt hat, dass ich drei Kilometer zu Fuß laufen musste. In meinen neuen Plateauschuhen. Du kannst dir nicht vorstellen, was für Blasen ich habe.« Ihre Stimme schallte laut und klar über die stille Straße. »Weit und breit kein Mensch, kein Auto. Ich latsche so vor mich hin undkann an nichts anderes denken als – nimmst du bitte noch die Löffel mit, nein, nicht die, die anderen, genau vor deiner Nase – das war unter Garantie das schlimmste erste Rendezvous aller Zeiten.«
Ich trat einen Schritt vom Lieferwagen zurück, dann noch einen – was hatte ich mir bloß gedacht? –, wollte gerade zu meinem Auto zurück; glücklicherweise war es noch nicht zu spät, meine verrückte Spontanidee ungeschehen zu machen.
Doch in dem Moment erschien ein Mädchen an der geöffneten Tür des Lieferwagens. Sie war nicht besonders groß und hatte eine lange, blonde Lockenmähne, die ihr den Rücken hinunterfloss. Ich wusste sofort, dass sie es war, deren Stimme ich gehört hatte. Warum ich das wusste? Weil sie aussah, wie sie aussah: schwarz glänzender Minirock, tailliertes, tief ausgeschnittenes weißes Top, schenkelhohe schwarze Plateaustiefel, knallroter Lippenstift. Die helle Haut ihres Gesichts leuchtete im Schein der Straßenlaterne, die hinter mir stand.
»Hallo«, sagte sie zu mir. Wandte sich kurz ab, schnappte sich einen Stapel Geschirrtücher und sprang von der Ladefläche auf die Straße.
»Hallo.« Eigentlich hatte ich noch mehr sagen wollen, ein paar zusammenhängende Worte, vielleicht sogar einen ganzen Satz. Doch aus irgendeinem Grund stand ich stocksteif und stumm da und rührte mich nicht. Als hätte ich es gerade eben so bis hierher geschafft und könnte nun kein Stückchen weiter.
Ihr schien das gar nicht weiter aufzufallen. Außerdem war sie zu sehr damit beschäftigt, weiteres Zeug aus dem Lieferwagen zu räumen, wobei sie leise vor sich hin summte. Als sie sich schließlich wieder umdrehte und merkte, dassich immer noch hinter ihr stand, fragte sie: »Hast du dich verfahren oder was?«
Wieder hatte ich keine Ahnung, was ich sagen sollte. Wobei das dieses Mal einen anderen Grund hatte als zuvor. Denn erst jetzt konnte ich ihr Gesicht, das bis dahin im Halbdunkel des Lieferwagens verborgen gewesen war, deutlich erkennen und war wie magisch angezogen von den zwei Narben, die sie hatte: Die eine, ziemlich dünn und leicht gebogen, verlief parallel zu ihrem Unterkiefer; es sah aus, als hätte jemand ihren Mund unterstrichen. Die andere schlängelte sich vom Haaransatz über die Schläfe zum Ohr. Außerdem hatte sie hellblaue Augen, trug an jedem Finger einen Ring und roch nach Melonenkaugummi, aber das fiel mir erst später auf. Alles, was ich zunächst wahrnehmen konnte, waren die Narben.
Hör auf, sie anzustarren, ermahnte ich mich und war entsetzt über mein eigenes Verhalten. Das Mädchen dagegen schien es entweder kaum zu merken oder es war ihr egal. Sie wartete nur geduldig darauf, dass ich antwortete.
Ein Äh war das Erste, was ich schließlich zustande brachte. Ich musste mich regelrecht dazu zwingen, den Mund aufzumachen. »Eigentlich wollte ich wissen, wo Delia ist.«
Die Vordertür des Lieferwagens fiel ins Schloss. Im nächsten Moment tauchte Monica auf, die ich schon von dem Empfang bei meiner Mutter kannte. Genau wie damals bewegte sie sich wie in Zeitlupe. Sie trug ein großes Schneidebrett und machte ein Gesicht, als wöge das Teil mindestens fünfzig Kilo. Während sie im Schneckentempo über den Bürgersteig kroch, blies sie sich die langen Ponyfransen aus dem Gesicht.
Die Blonde warf ihr einen Blick zu. »Serviergabeln nicht vergessen, Miss Monoton.«
Monica hielt inne, drehte sich langsam um die eigene Achse und verschwand wieder hinter dem Lieferwagen. Ganz gemächlich natürlich.
»Delia ist schon in der Küche.« Die Blonde legte den Stapel Geschirrtücher von einem Arm auf den anderen. »Du musst bloß die Auffahrt bis ganz nach oben laufen, dann landest du am Seiteneingang.«
»Ach so«, sagte ich. Monica tauchte wieder auf. Jetzt trug sie nicht mehr nur das Schneidebrett, sondern zusätzlich ein paar großzinkige Gabeln. »Danke«, sagte ich.
Ich wollte gerade aufs Haus zulaufen, war vielleicht zwei Meter weit gekommen, als die Blonde mir nachrief: »Wenn du sowieso in die Richtung gehst, würdest du bittebittebitte was mitnehmen? Sei so lieb, ja? Wir sind spät dran, was
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