Zwischen jetzt und immer
im Bett lag und alles mitbekam.
Oft war ich gerade eingeschlafen, da hörte ich, wie sich meine Zimmertür mit einem leisen Knarren erst öffnete und dann blitzschnell wieder schloss. Jemand schlich taptaptap barfuß durchs Zimmer, Schuhe landeten dumpf auf dem Teppich, und als Nächstes spürte ich, wie dieser Jemand aufmein Bett stieg und die Matratze unter dem zusätzlichen Gewicht nachgab.
»Macy!« Ein sanftes und zugleich entschlossenes Flüstern. »Pscht! Sei bloß still, okay?«
Sie drückte langsam das Fenster hoch, stieg über meinen Kopf hinweg und schwang sich auf das Fensterbrett, unter dem mein Bett stand.
Und ich flüsterte vermutlich jedes Mal so was wie: »Du kriegst echt noch gewaltigen Ärger.«
Sie ließ die Füße über die Fensterbank baumeln. »Gib mir meine Schuhe.« Was ich natürlich folgsam tat. Und wenn sie die Schuhe hinausgeworfen hatte, ertönte von unten ein gedämpftes Patsch.
»Caroline!«
Sie drehte sich noch einmal kurz zu mir um. »Mach das Fenster zu, aber nicht verriegeln. Ich bin in einer Stunde wieder da. Träum was Schönes. Ich habe dich lieb.« Und dann beugte sie sich nach links – immer nach links –, bevor sie endgültig verschwand. Von dem Moment an konnte ich sie nur noch hören. Geschickt kletterte sie an der Eiche nach unten, Ast um Ast. Wenn ich mich aufsetzte, um das Fenster zu schließen, lief sie, Schuhe unterm Arm, meist schon über den Rasen. Ihre bloßen Füße hinterließen dunkle Spuren im feuchten Gras. Und jedes Mal wartete neben dem Stoppschild an der nächsten Kreuzung ein Auto auf sie.
Es dauerte immer länger als eine Stunde, manchmal sogar viel länger, bevor sie wieder auf der Außenseite des Fensters auftauchte, es hochschob und auf mich purzelte. Beim Abhauen war meine Schwester klar, nüchtern, präzise, als ginge sie zur Arbeit; doch wenn sie zurückkam, roch sie nach Bier und süßem Rauch, schwankte leicht, war sentimental,chaotisch und oft so müde, dass sie es nicht mehr zurück in ihr eigenes Bett schaffte, es wohl auch gar nicht wollte. Lieber kroch sie zu mir unter die Decke. Da lag sie dann, die Schuhe noch an den Füßen, und ihr Make-up verschmierte meinen Kopfkissenbezug. Manchmal weinte sie, erzählte mir allerdings nie, warum, sondern schlief irgendwann ein, während ich die ganze Nacht vor mich hin döste. Bei Sonnenaufgang schreckte ich dann hoch, rüttelte sie wach und brachte sie in ihr eigenes Zimmer, damit ihre nächtlichen Eskapaden nicht aufflogen. Dann ging ich selbst noch mal in mein Bett, wo alles nach ihr roch, und schwor, dass ich mein Fenster beim nächsten Mal von innen verriegeln würde. Aber den Schwur brach ich natürlich auch jedes Mal.
Als wir nach Wildflower Ridge zogen, ging Caroline schon aufs College und nach wie vor (fast) jede Nacht aus, manchmal bis zum Morgengrauen. Doch meine Eltern hatten aufgegeben. Sie versuchten nicht mehr Caroline aufzuhalten, sondern trafen lediglich eine Vereinbarung mit ihr: Sie konnte machen, was sie wollte, solange sie es diskret tat und ihr Zensurendurchschnitt konstant bei Zwei lag; dafür durfte sie umsonst daheim wohnen, während sie studierte und im Country Club kellnerte. Zum Glück musste sie also nachts nicht mehr heimlich verschwinden, denn in unserem neuen Haus stand kein Baum in praktischer Nähe irgendeines Schlafzimmerfensters und die Entfernung zum Boden war auch größer.
Nach dem Tod meines Vaters kam sie manchmal überhaupt nicht mehr heim. Ich malte mir dann jedes Mal absolute Horrorszenarien aus, sah sie schon tot auf der Autobahn liegen; die Realität war jedoch wesentlich unspektakulärer, denn zu der Zeit hatte sie sich bereits bis über beideOhren in Wally, einen geschiedenen, aufstrebenden Anwalt aus Raleigh, verliebt, der zehn Jahre älter war als sie. Wie so vieles andere verheimlichte sie auch das beziehungsweise ihn meinen Eltern, aber nach der Beerdigung wurde die Sache zwischen ihnen immer ernster, bis er ihr schließlich einen Heiratsantrag machte. Wenn man die Ereignisse so zusammenfasst, klingt das Ganze kürzer, als es tatsächlich war, aber auch damals konnte es einem so vorkommen – zumindest erging es mir so –, als geschähe alles Schlag auf Schlag: In der einen Nacht purzelte Caroline noch durch mein Schlafzimmerfenster und schon am nächsten Tag stand ich vorne in einer Kirche und sah in beinahe schmerzlicher Deutlichkeit zu, wie mein Onkel Mike sie durch den Mittelgang zum Traualtar führte, wo Wally sie
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