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Zwischen jetzt und immer

Zwischen jetzt und immer

Titel: Zwischen jetzt und immer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Dessen
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Abwechslung. Auf der Straße müssen ein paar Löcher sein, genau wie im Leben. Weil es so ist.«
    Wir schwiegen. Der letzte Schimmer Sonnenuntergang verblasste schwach rosa hinter den Bäumen, die ich von meinem Platz in der Garage aus sehen konnte.
    »Trotzdem . . .« Ich nahm mir eine neue Scheibe Brot. »Es ist ein ziemlich tiefes Loch.«
    »Ein gigantisches Loch«, pflichtete sie mir bei und streckte die Hand nach dem Mayonnaiseglas aus. »Aber genau darum geht’s. Ich will es nicht zuschütten, weil es für mich gar kein Loch ist, ich meine, in dem Sinn, dass die Straße kaputt wäre oder so. Das Loch ist eben da und ich lebe damit. Passe mich an, fahre drum herum. Aus demselben Grund würde ich mir nie einen anderen Wagen besorgen, obwohl die Klimaanlage und das Autoradio nie gleichzeitig funktionieren. Ich muss mich entscheiden: Musik oder Kühlung. Was ich, ehrlich gesagt, aber nicht so tragisch finde.«
    »Die Klimaanlage funktioniert nicht, wenn das Radio läuft? Ist ja eigenartig.«
    »Ich weiß.« Sie nahm drei weitere Brotscheiben aus dem Plastikbeutel, bestrich sie mit Mayonnaise und legte je ein Salatblatt drauf, alles wie am Fließband. »Das Prinzip setzt sich auf einer anderen, tieferen oder von mir aus auch höheren Ebene fort: Auch wenn es zum Beispiel schön wäre, nicht ständig mit dem Gefühl zu leben, dass eine Katastrophe die nächste jagt, möchte ich keinen festen Geschäftspartner für meinen Catering-Service, obwohl der Laden ohne Wish das reinste Chaos ist. Ich kann nun mal nicht besonders gut organisieren.«
    Ich machte mich ans nächste Sandwich und hörte einfach nur zu.
    »Aber wenn alles immer glatt liefe und perfekt wäre«, fuhr sie fort, »würde man sich zu sehr daran gewöhnen. Einbisschen Durcheinander braucht der Mensch. Sonst kann man es gar nicht mehr genießen, wenn alles klappt. Du hältst mich jetzt bestimmt für verrückt, womit du übrigens nicht allein stehst.«
    »Ich halte dich nicht für verrückt«, antwortete ich.
    Doch Delia schüttelte zweifelnd den Kopf. »Schon okay. Du glaubst nicht, wie oft ich Wes schon dabei erwischt habe, wie er zusammen mit jemandem von der Kiesgrube heimlich versucht hat, das Loch zuzuschütten.« Sie arrangierte die nächste Brotscheibenreihe vor sich. »Und Pete, mein Mann, wollte mich schon zweimal mit zum Autohändler schleifen, um mein altes Auto gegen ein neues einzutauschen. Allerdings, was das Catering angeht   – na ja, ich weiß nicht. Aus irgendeinem Grund redet mir da niemand rein. Wegen Wish. Was eine echte Ironie des Schicksals ist, denn wenn sie jetzt reinspazieren und mitkriegen würde, was hier abgeht . . . sie würde ausflippen. Sie war ein Organisationsgenie.«
    »Wish.« Ich angelte mir die Mayonnaise. »Was für ein cooler Name.«
    Sie lächelte. »Ja, nicht? Eigentlich hieß sie Melissa. Aber das konnte ich als kleines Mädchen nicht gut aussprechen, sagte immer Ma-wisha oder so was in der Art. Daraus wurde Wish, als Abkürzung, und irgendwann nannten alle sie so. Was ihr nichts ausmachte, zumal der Name zu ihr passte.« Sie schnappte sich ein Messer und schnitt die belegten Brote sorgfältig erst einmal und dann noch einmal durch; die so entstandenen Sandwich-Dreiecke schichtete sie auf das Tablett, das neben uns stand. »Das Catering war ihre Idee und ihr Neuanfang nach der Scheidung von Wes’ und Berts Vater. Er zog in den Norden und sie stampfte den Laden aus dem Boden, bis alles wie am Schnürchen lief. Aber dannwurde sie krank   – Brustkrebs. Sie war erst neununddreißig, als sie starb.«
    Es fühlte sich seltsam an, ausnahmsweise auf der anderen Seite zu stehen und jemand anderem sein Beileid ausdrücken zu müssen anstatt es zu hören, dieses Es-tut-mir-so-Leid. Ich wollte, dass die Worte echt klangen, aufrichtig, denn so waren sie gemeint. Doch das Schwierige am Trauern und an den Trauernden besteht ja darin, dass sie eine andere Sprache sprechen und dass die Worte niemals dem genügen, was man eigentlich ausdrücken will.
    »Es tut mir so Leid, Delia. Wirklich.«
    Sie blickte auf, in jeder Hand eine Scheibe Brot. »Danke. Mir auch.« Lächelte traurig, legte die Scheiben auf den Tisch und begann, das nächste Sandwich zusammenzubauen. Ich machte es ihr nach. Ein paar Minuten lang arbeiteten wir ohne zu reden. Das Schweigen zwischen uns war allerdings anders als die langen Phasen der Stille, an die ich mich in letzter Zeit wohl oder übel gewöhnt hatte, denn es war kein leeres, sondern ein

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