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Zwischen jetzt und immer

Zwischen jetzt und immer

Titel: Zwischen jetzt und immer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Dessen
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Trauer stellte: Man bekam endlich ein Gefühl dafür, wie tief die Trauer war, wie groß, wie weit, wie man sich hindurch- oder drum herumarbeiten konnte, egal wofür man sich letztendlich entschied.

Kapitel 6
    »Okay«, sagte Wes halblaut. »Schau mir einfach zu, so lernst du es am besten.«
    Ich nickte.
    Wir standen in der Garderobe des
Lakeview Inn
und Wes hatte vor, mich in die Kunst des Erschreckens einzuweihen. Eigentlich sollten wir gerade die letzte Runde Appetithappen bei einer Party servieren, mit der jemand seinen Ruhestand feierte. Und ich hatte bloß schnell ein Cape loswerden wollen, das mir einer der Gäste zum Aufhängen gegeben hatte. Doch als ich in die Garderobe kam, lag Wes dort auf der Lauer.
    »Wes?«, setzte ich an, doch er legte einen Finger auf die Lippen und signalisierte mir mit der anderen Hand näher zu kommen. Unwillkürlich stellte ich mich neben ihn, obwohl ich dasselbe unbestimmte Flattergefühl in meinem Bauch verspürte, das mich in Wes’ Nähe immer überfiel. Auch wenn wir nicht gerade auf engstem Raum zusammenstanden so wie jetzt.
    Aus dem Nebenraum drangen Partygeräusche: Gabelklirren auf Porzellan, glucksendes Lachen, dazwischen immer wieder Geigenklänge vom Band   – zufällig die gleiche Musik, die auch bei der Hochzeit meiner Schwester hier im
Lakeview Inn
gelaufen war.
    »Pass auf.« Wes sprach so leise, dass ich   – hätten wir nicht schon so dicht beieinander gestanden   – mich noch näher zu ihm gebeugt hätte, um ihn zu verstehen. »Timing ist alles.«
    Unmittelbar vor meinem Gesicht baumelte ein Mantel, dem ein starker Parfumgeruch anhaftete. Ich schob ihn etwas beiseite.
    »Noch nicht«, flüsterte Wes. »Noch nicht . . . immer noch nicht . . .«
    Ich hörte Schritte, Gemurmel. Bert.
    »Okay«, wisperte Wes. Und sprang plötzlich hoch, raus, vorwärts. »Jetzt . . . Buh!«
    Bert schrie, und zwar in einer Höhe und Lautstärke, dass Fensterscheiben zersprungen wären, wenn welche in der Nähe gewesen wären; gleichzeitig ruderte er mit den Armen, um das Gleichgewicht zu halten, doch vergeblich: Er taumelte rückwärts gegen die Wand und sank zu Boden wie ein nasser Sack. »Shit!«, sagte er laut, wurde knallrot im Gesicht und   – als er mich sah   – gleich noch röter. Ich verstand ihn nur zu gut. Es ist nicht leicht, in einer dermaßen peinlichen Situation einen Rest Anstand und Würde zu bewahren.
    Endlich schaffte Bert es, keuchend und stotternd zu sagen: »Das war   –«
    Doch Wes fiel ihm ins Wort: »Nummer sechs, nach meiner Zählung.«
    Bert rappelte sich mühsam hoch und funkelte uns böse an. »Ich mach dich fertig«, verkündete er grimmig, zeigte mit dem Finger erst auf Wes, dann auf mich, dann wieder auf Wes. »Ich mach euch alle beide fertig. Wartet’s bloß ab.«
    »Lass Macy aus dem Spiel«, meinte Wes. »Sie hat nicht mitgemacht, ich wollte ihr bloß zeigen, wie’s geht.«
    »Auf gar keinen Fall halte ich sie raus«, entgegnete Bert.»Sie hängt ab jetzt mit drin. Deine Schonfrist ist vorbei, Macy.«
    »Bert, du hast sie schon mal erschreckt«, sagte Wes. »Weißt du das etwa nicht mehr?«
    Bert ignorierte die Frage. »Das Spiel geht weiter. Zu dritt! Und ihr werdet es noch bereuen«, verkündete er mit fester Stimme und stapfte, vor sich hin grummelnd, in Richtung Festsaal. Die Tür ließ er betont laut hinter sich zufallen. Wes blickte ihm ungerührt nach. Die Drohung schien ihm überhaupt nichts auszumachen, im Gegenteil, er lächelte amüsiert.
    »Saubere Leistung«, meinte ich, während wir den Flur entlang zur Küche liefen.
    »Ist gar nicht so schwer. Mit ein bisschen Übung kriegst du das auch hin und kannst die Welt eines Tages unsicher machen.«
    »Ich bin vielleicht ein bisschen zu neugierig, aber ich würde wirklich gern wissen, wo diese Aktion ihren Ursprung genommen hat.«
    »Ursprung genommen?«
    »Ja, wie es angefangen hat.«
    »Ich weiß, was die Worte bedeuten«, antwortete er. Ich bekam einen Riesenschreck, weil ich im ersten Moment glaubte ihn beleidigt zu haben. Aber dann grinste er mich an: »Es ist bloß so . . . ›seinen Ursprung nehmen‹   – das klingt, als würdest du aus einem Handbuch für die College-Aufnahmeprüfung zitieren. Ich bin schwer beeindruckt.«
    »Du hast es erfasst. Ich arbeite gerade das Kapitel über Vokabular und Ausdrucksfähigkeit durch.«
    »Das merkt man.«
    Ein Service-Angestellter vom
Lakeview Inn
kam an uns vorbei. Wes nickte ihm grüßend zu, bevor er fortfuhr: »Aberda ist

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