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Zwischen jetzt und immer

Zwischen jetzt und immer

Titel: Zwischen jetzt und immer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Dessen
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bewusstes, selbst gewähltes Schweigen. Wenn man nicht allein ist, sondern das Schweigen jeden Augenblick gebrochen werden könnte   – gebrochen werden kann   –, fühlt Stille sich ganz anders an. Es ist so ähnlich wie der Unterschied zwischen einer Pause und einem endgültigen Abschluss.
    »Weißt du, was geschieht, wenn jemand stirbt?«, fragte Delia so unvermittelt, dass ich leicht zusammenzuckte. Es klang, als würde sie gleich weitersprechen, daher antwortete ich nicht und fuhr wortlos fort, mein angefangenes Sandwich fertig zu belegen.
    »Jeder reagiert anders. Es ist so, als würden bei jedem die Sollbruchstellen des Lebens neu berechnet. Nimm zum Beispiel Wes, im Gegensatz zu mir. Nach der Scheidung trieb ersich mit den falschen Leuten rum, wurde sogar verhaftet; seine Mutter wusste überhaupt nicht mehr, was sie mit ihm anstellen sollte. Aber durch ihre Krankheit änderte er sich. Wurde fast ein neuer Mensch, kümmerte sich rührend um Bert   – das tut er übrigens bis heute   –, konzentriert sich auf seine Skulpturen, steht dauernd in der Werkstatt, schweißt und lötet und macht. Es ist eben seine Art, damit umzugehen.«
    »Wes kann schweißen?« Plötzlich fiel mir die Skulptur wieder ein. »Hat er etwa . . .«
    ». . . das Herz in der Hand gemacht?«, ergänzte sie meine Frage. »Ja. Ein irres Ding, was?«
    »Allerdings. Ich hatte keine Ahnung. Dabei haben wir uns darüber unterhalten. Aber er hat mit keiner Silbe erwähnt, dass die Skulptur von ihm ist.«
    »Er hängt das nicht an die große Glocke.« Sie zog das Mayonnaiseglas dichter zu sich heran. »In der Beziehung ist er wie seine Mutter. Ruhig, still, bescheiden   – aber dahinter einfach unglaublich. Ich gebe zu, ich bin sogar ein bisschen neidisch auf Menschen, die so sind.«
    Sie schnitt zwei weitere Sandwiches in je vier Teile. Das Messer klackte auf dem Schneidebrett. Ich sah ihr zu.
    »Aber du bist doch auch unglaublich«, sagte ich schließlich. »Jedenfalls kommt es mir so vor. Was du alles schaffst. Hast ein Kind, bekommst noch ein zweites und schmeißt trotzdem deinen eigenen kleinen Catering-Laden.«
    Sie schüttelte lächelnd den Kopf. »Glaub mir, ich bin nichts Besonderes, jedenfalls nicht so wie Wes oder Wish. Als sie starb, war ich völlig am Boden. Mir ging’s wie bei dem blöden Spiel, das Wes und Bert immer veranstalten, du weißt schon, wenn sie plötzlich aus dem Nichts hervorspringen und Buh brüllen: Wishs Tod war das ultimative Buh!«Delia betrachtete die Sandwichviertel, die vor ihr auf der Arbeitsplatte lagen. »Ich hatte mir immer eingebildet, es würde schon alles gut gehen. Wäre nicht im Traum draufgekommen, dass sie eines Tages einfach   – weg sein könnte. Verstehst du?«
    Ich nickte, fast unmerklich. Hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich ihr nichts von meinem Vater erzählte, nicht zugab, wie gut ich verstand, sie nicht wissen ließ, was ich wusste und zu unserem Gespräch hätte beitragen können. Was einen ganz egoistischen Grund hatte, denn für Delia war ich nicht das Mädchen, das seinen Vater sterben sah, war niemand Besonderer. Und das gefiel mir, ich gebe es zu.
    »Aber dann, plötzlich, war sie weg.« Delias Hand lag auf dem Brotbeutel. »Einfach so. Weg. Buh! Plötzlich musste ich mich nicht nur um mein neugeborenes Baby kümmern, sondern auch noch um ihre beiden Söhne. Ein unfassbarer Verlust, eine Riesenlücke, ein Loch, verstehst du?«
    »Ja«, antwortete ich leise.
    »Manche Menschen können einfach irgendwie weitermachen«, sagte sie und ich war mir nicht sicher, ob sie mein Ja überhaupt registriert hatte. »Verstehst du, was ich meine? Sie weinen, sie trauern und dann geht das Leben weiter. Sie schließen damit ab, zumindest wirkt es nach außen so. Ich dagegen . . . ich weiß nicht. Ich wollte nichts drüberkleistern, wollte es nicht vergessen. Da war nichts kaputtgegangen, das man irgendwie hätte reparieren können, sondern . . . es war eben einfach passiert. Und ich muss jeden Tag neue Möglichkeiten finden, damit zu leben. Wie bei dem Loch in der Straße. Mich erinnern, es wahrnehmen, respektieren und gleichzeitig damit klarkommen. Verstehst du?«
    Ich nickte, obwohl ich nichts verstand. Im Gegensatz zuDelia hatte ich mich dafür entschieden, die Richtung zu ändern, einen Riesenumweg zu machen. Als würde
es
von selbst verschwinden, wenn ich es verdrängte. Ich beneidete Delia. Zumindest wusste sie, wogegen sie kämpfte. Vielleicht war das der Lohn, wenn man sich seiner

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