Zwischen jetzt und immer
nahm dieselbe Route wie jedes Mal, wenn wir zusammen joggten. Raus aus unserer Straße, rechts auf den Willow Drive, links in die McKinley Road.«
Wes schwieg, aber ich wusste, dass er aufmerksam zuhörte. Spürte es einfach.
»Ich hatte einen guten halben Kilometer hinter mir. An der Stelle steigt die Straße leicht an. Als ich oben ankam, sah ich ihn. Er lag auf dem Bürgersteig.«
Ich wusste, dass Wes mich ansah, wusste allerdings auch, diesen Blick durfte ich nicht erwidern, sonst hätte ich nicht weitergesprochen. Deshalb schaute ich stur geradeaus und redete weiter. Immer weiter. Meine Schritte, unsere Schritte erklangen gleichmäßig auf dem Asphalt. Sag was, dachte ich, nicht aufhören.
»Im ersten Moment habe ich es überhaupt nicht richtig begriffen«, fuhr ich fort. »Ich meine, ich sah ihn dort liegen, aber mein Gehirn konnte die Eindrücke nicht verarbeiten,deshalb sah ich im Prinzip gar nichts, obwohl es sich unmittelbar vor meinen Augen abspielte.«
Die Worte stürzten nur so aus meinem Mund. Im Grunde genommen redete ich viel zu schnell, konnte das jedoch genauso wenig kontrollieren wie die Tatsache, dass sie überhaupt kamen. Die Worte. Sich geradezu rausdrängten. Und weil sie so lang in mir gefangen gewesen waren, konnte niemand und nichts sie mehr aufhalten, nicht einmal ich selbst.
»Ich fing an zu rennen. Schneller, immer schneller. Ich rannte wie noch nie zuvor in meinem Leben. Ich denke, es lag am Adrenalin. Nie bin ich so schnell gewesen wie in dem Moment. Nie!«
Alles, was ich hörte, waren unsere Schritte. Die stille Dunkelheit. Und meine Stimme.
»Neben meinem Vater kniete ein Mann.« Ich hörte und hörte nicht auf zu sprechen. »Ein Passant, der auf dem Weg zum Einkaufen gewesen war und versuchte meinen Vater durch Mund-zu-Mund-Beatmung wiederzubeleben. Was er allerdings ungefähr in dem Moment aufgab, als ich bei ihnen war. Der Notarztwagen kam, wir fuhren ins Krankenhaus. Aber es war zu spät.«
Und damit hatte ich es geschafft. Es war vorbei. Ich merkte, dass ich schneller atmete als sonst, spürte den Luftzug an meinen Zähnen, meinen Lippen. Außerdem wurde mir etwas schwindelig; als hätte ich dadurch, dass ich diese Geschichte nicht mehr so krampfhaft umklammerte und an mich drückte wie bisher, mein Gleichgewicht verloren. Trauer kann eine Last sein, aber auch ein Anker. Man gewöhnt sich an das Gewicht der Trauer. Gewöhnt sich daran, wie es einen stabilisiert und verwurzelt. Wie man sich daran festhalten kann.
»Macy«, sagte Wes leise.
»Bitte nicht«, erwiderte ich, denn ich wusste, was als Nächstes kam, irgendeine Beileidsbekundung, die ich jedoch nicht hören wollte. In diesem Moment nicht. Und vor allem nicht von ihm. »Bitte. Du brauchst jetzt gar nichts –«
Unvermittelt wurden wir von Licht überflutet. Helles, gelbes Licht, das am oberen Ende der Steigung vor uns aufflammte und sich über uns ergoss. Plötzlich warfen wir wieder Schatten. Und mussten beide blinzeln. Wes schirmte sich die Augen mit der Hand ab. Der Motor des sich nähernden Wagens ratterte ziemlich laut. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis er neben uns anhielt.
»Hallo ihr.« Eine Männerstimme. Vermutlich der Fahrer. Aber das konnte ich letztlich ebenso wenig erkennen wie sein Gesicht, dazu war der Übergang von dunkel zu hell einfach zu abrupt. »Soll ich euch mitnehmen? Was treibt ihr überhaupt hier draußen?«
»Wir hatten kein Benzin mehr«, sagte Wes. »Wo ist die nächste Tankstelle?«
Der Mann deutete mit dem Daumen in die entgegengesetzte Richtung. »Ungefähr fünf Kilometer da lang. Wo steht euer Auto?«
»Etwa drei Kilometer da lang«, antwortete Wes und deutete in dieselbe Richtung wie der Typ.
»Dann steigt mal ein.« Er griff nach hinten, um die Türen zu entriegeln. »Ich fahre euch hin. Habt ihr mich erschreckt, als ihr so plötzlich aus der Dunkelheit aufgetaucht seid. Ich dachte, jetzt habe ich gleich ein Reh auf der Kühlerhaube.«
Wes öffnete die hintere Tür auf der Fahrerseite, hielt sie auf, damit ich einsteigen konnte, und glitt neben mir auf die Rückbank. Im Wageninneren roch es nach Motoröl undZigarrenrauch. Der Mann fuhr los. Von schräg hinten konnte ich ihn nur im Profil sehen; er hatte weiße Haare, eine leicht gebogene Nase und er fuhr fast so langsam wie Bert. Seltsam, dass wir seinen Wagen nicht eher gesehen hatten. Er war einfach plötzlich erschienen, als wäre er vom Himmel gefallen.
Ich lehnte mich zurück. Mein Herz fühlte sich an,
Weitere Kostenlose Bücher