Zwischen jetzt und immer
Freundin.«
»Von meiner letzten Freundin?«, fragte er zurück. »Oder von meiner jetzigen?«
Ich muss zugeben, ich war überrascht. Nicht nur überrascht – nein, es haute mich fast um vor Enttäuschung. Aber ich fing mich schnell wieder. Was hatte ich mir denn eingebildet? Natürlich hatte ein Typ wie Wes eine Freundin.
»Deine jetzige Freundin«, erwiderte ich daher. »Was läuft zwischen euch?«
»Nun, sie sitzt hinter Schloss und Riegel, damit fängt es schon mal an«, antwortete er.
Ich sah ihn an. »Du bist mit einer zusammen, die im Gefängnis ist?«
»In einer geschlossenen Anstalt, die auf Entziehungskuren spezialisiert ist.« Das Wort kam ihm so leicht über die Lippen wie mir das Wort Schlaumeiercamp, wenn ich Leuten erzählte, wo Jason gerade steckte. Als wäre es genauso normal. »Ich habe sie in Myers kennen gelernt. Man hatte sie wegen Ladendiebstahls eingebuchtet, doch weil sie seither noch mal erwischt worden ist, und zwar mit ziemlich viel Marihuana in den Taschen, muss sie jetzt ihre Zeit im Evergreen Care Center absitzen, zumindest solange die Versicherung ihres Vaters die Rehabilitierungsmaßnahme noch zahlt.«
»Wie heißt sie?«
»Becky.«
Becky. Becky, die bekiffte Ladendiebin, dachte ich, rief mich aber sofort zur Ordnung. Sei nicht so gemein, ermahnte ich mich selbst, bevor ich fragte: »Scheint was Ernstes zu sein zwischen euch, oder?«
Erneutes Achselzucken. »Becky hatte im letzten Jahr ständig irgendwelchen Ärger, deswegen haben wir uns kaum gesehen. Sie will partout nicht, dass ich sie in Evergreen besuche, deshalb haben wir beschlossen zu warten, bis sie wieder draußen ist, und dann zu sehen, wie’s mit uns weitergehen könnte.«
»Und wann wird das sein?«
»Am Ende des Sommers.« Wes trat gegen ein Steinchen, so dass es quer über den Asphalt schlitterte. »Bis dahin hängen wir sozusagen in einer Art Warteschleife.«
»So ähnlich wie bei mir«, antwortete ich. »Ende August wollen wir überlegen, ob wir wieder zusammenkommen oder ob es für uns beide das Beste ist, wenn wir endgültig auseinander gehen.«
Er verzog leicht gequält das Gesicht. »Das klingt wie ein Zitat.«
Ich seufzte. »Stimmt, genau so hat er es in seiner E-Mail ausgedrückt.«
»Autsch!«
»Ich weiß.«
Schweigend liefen Wes und ich Seite an Seite durch die Dunkelheit. Komisch, wie viel man mit jemandem gemeinsam haben kann, bei dem man das auf den ersten Blick nicht für möglich gehalten hätte, dachte ich. An jenem Abend vor unserem Haus, als ich ihn kennen lernte, hätte ich das jedenfalls nie gedacht. Ich hatte bloß einen umwerfend gut aussehenden Jungen wahrgenommen und mit Recht vermutet, dass ich ihn dieses eine Mal und ansonsten nie wieder sehen würde. Was er wohl über mich gedacht hatte?
Wieder stieg die Straße leicht an, dieses Mal umsäumt von Bäumen. »Ich bin dran«, verkündete Wes.
Ich schob meine Hände in die Hosentaschen.
»Und? Wie lautet die Frage?«
»Was ist der wahre Grund, warum du aufgehört hast zu laufen?«
Ich merkte, dass ich scharf die Luft einsog, als hätte mir jemand einen Schlag in die Magengrube versetzt, so jäh und unvermittelt überfiel mich die Frage. Über Jason konnte ich reden, kein Problem. Aber das hier war etwas anderes. Etwas ganz anderes. Es ging weit über die Frage selbst hinaus. Doch ich hatte mich nun mal drauf eingelassen, Wahrheit zu spielen. Und soweit ich es bisher beurteilen konnte, spielte Wes absolut fair. Es war dunkel, es war still. Wir waren allein. Und plötzlich merkte ich, dass ich schon angefangen hatte zu antworten.
»An dem Tag, an dem mein Vater gestorben ist, kam er morgens in mein Zimmer, um mich zu wecken.« Ich hieltmeine Augen stur auf die Straße vor uns gerichtet. »Er wollte, dass ich mitkomme, aber ich war noch viel zu verpennt und faul. Deshalb habe ich bloß abgewunken und gemeint, er solle ohne mich laufen gehen.«
Ich hatte diese Geschichte noch nie jemandem erzählt, meine Gedanken und Gefühle dazu noch nie Wort für Wort ausgesprochen. Und ich konnte kaum glauben, dass ich es nun tatsächlich tat.
»Kurze Zeit später änderte ich allerdings meine Meinung.« Ich unterbrach mich. Schluckte. Ich brauchte nicht weiterzuerzählen, nein. Wenn ich wollte, konnte ich jederzeit aufhören und mich geschlagen geben. Aber aus irgendeinem Grund redete ich wie ein Wasserfall. »Deshalb stand ich doch auf und rannte ihm nach. Ich wusste, wo er langlaufen würde, wusste, dass ich ihn einholen konnte. Er
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