Zwischen Krieg und Terror
das Denken und Handeln der Bewohner der Wüste. Wer sich an der Wasserquelle eines anderen Stammes bedient, hat, so das ungeschriebene Gesetz, sein Leben verwirkt. Mit dem heiligen Buch der Moslems, dem Koran, hat das wenig zu tun. So lassen sich viele Aktionen von Terroristenführern wie Osama bin Laden oder Abu Mussab Al Zarqawi auch nicht allein mit den Vorschriften des Korans begründen. Ihre Taktik ist geprägt von Rachegedanken und dem Besitzverständnis, die für die Beduinen neben dem Koran und dem islamischen Recht bis heute die Richtschnur des Handelns darstellen.
Im Irak haben der Zerfall der Staatsmacht und die Auflösung von Armee und Geheimdiensten durch die von Washington entsandte Zivilverwaltung zur Stärkung der Stämme geführt. Sie bauen ihre traditionelle Selbstständigkeit wieder aus, existieren als Parallelgesellschaften und widersetzen sich stärker denn je einer Kontrolle durch die Zentralmacht in Bagdad. Da die Verwaltung dort nach dem amerikanischen Einmarsch vom Pentagon eingesetzt wurde, verweigern viele Stammesführer jede Form der Zusammenarbeit.
Saddam Hussein hatte Stämme, die sich jeder Kontrolle entzogen, dadurch für sich gewinnen können, indem er deren Führer bezahlte und wichtige Vertreter in den Staatsapparat in Bagdad einband. Viele der hohen Offiziere entstammten bedeutenden Stammesclans. Gerade deshalb wäre es falsch, sie als Parteigänger Saddam Husseins zu bezeichnen. Selbst Generäle vermieden es, der Baath-Partei beizutreten, weil sie sich weiter als Vertreter ihrer Stämme betrachteten und sich dem Machtapparat in Bagdad nicht auch noch ideologisch unterordnen wollten.
Die Loyalität von Stämmen kann zeitlich begrenzt sein. Schon im Altertum zogen sie mit den von ihnen zur Verfügung gestellten Bewaffneten als Hilfstruppen in den Krieg. Wenn die Bezahlung nicht mehr stimmte oder die Stammesinteressen es erforderten, beendeten sie ihre Teilnahme. Als Loyalität auf Zeit lässt sich dieses Verhalten beschreiben, mit dem auch der britische Geheimdienstoffizier Thomas Edward Lawrence konfrontiert wurde, als er die Stämme der arabischen Wüste zum Aufstand gegen die türkischen Besatzer anstachelte. Stammesführer zogen mit ihren Kriegern einfach ab, ohne dass selbst »Lawrence von Arabien«, der vermeintliche Kenner arabischer Mentalität, den Anlass hierzu verstehen konnte. Für AuÃenstehende sind die Interessen der Stämme und damit ihre Entscheidungen nicht nachvollziehbar, da sie den mannigfaltigsten Einflüssen unterliegen. Einige der wichtigen Führer irakischer Stämme halten sich bis heute nicht einmal im Lande auf, sondern leben in anderen arabischen Staaten und bestimmen von dort aus die Geschicke ihrer Leute. Meist haben diese Männer Pässe mehrerer Staaten - Grenzen sind nicht von Bedeutung für weite Teile ihres Handelns. Auch Ghazi Al Yawar, der erste Präsident Iraks nach dem Sturz Saddam Husseins, besitzt einen saudischen Pass und ist mit einer Saudi-Araberin verheiratet. Als bedeutender Scheich der Schammar, eines der gröÃten Stämme der arabischen Wüste, reichen seine familiären Bindungen bis in den Jemen. Ebenso ist die Mutter des saudischen Königs eine Schammar.
Als Journalist darf man dieses komplexe Gefüge, in dem sich staatliche Macht mit der von Stämmen überschneidet, nicht auÃer Acht lassen. Um in Mosul, der gröÃten Stadt Nordiraks, arbeiten zu können, treffe ich mich in Abu Dhabi, der Hauptstadt der Vereinigten Arabischen Emirate, mit einem Scheich, der dort seit längerem bei Verwandten lebt. »Wir sind wie ein Staat«, erklärt mir der Mann zu Beginn des Gesprächs, in dem ich ihn um eine Drehgenehmigung bitten möchte. Wenn mir jemand in Bagdad versichert, ich dürfe in der Gegend um Mosul Aufnahmen machen, hilft mir das nicht wesentlich weiter. Doch da der Scheich, der für 150 000 Angehörige seines Stammes spricht, mir seine Zustimmung gibt, sind etwaige Probleme nicht zu befürchten. Für den Stammesfürsten ist es selbstverständlich, dass er und nicht die Regierung in Bagdad entscheidet, was in dem Gebiet seines Stammes geschieht. Da versteht es sich nahezu von selbst, dass ausländische Soldaten dort nichts verloren haben - es sei denn, ihr Auftreten wird vorab ausgehandelt. So unerbittlich ihre Feindschaft sein kann, so umfassend ist der Schutz, den Stammesführer
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