Zwischen Licht und Dunkel
geschüttelte Ministerhände und unerwartete Bekanntschaftsbeziehungen noch in Ehrfurcht und Staunen versetzen, erschienen mir solche Vorfälle doch wirklich außergewöhnlich. Es dauerte aber nicht lange, bis selbst ich als Islandneuling erstaunlich häufig Bekannte ausmachen konnte.
Dass „auf Island jeder jeden kennt“, ist allerdings ein Gerücht. Dazu ist selbst eine nur knapp 320.000 Mann starke Bevölkerung zu groß. Kennen sich vielleicht alle Bürger von Bonn oder Mannheim gegenseitig? Aber der Bekanntheitsgrad untereinander ist tatsächlich ziemlich hoch. Wer zum Beispiel in Reykjavík aufgewachsen und damit ein echter „Reykvíkingur“ ist, wird relativ viele andere Bewohner der Landeshauptstadt kennen. Aus der Schulzeit, dem Sportverein oder der Nachbarschaft. Wenn nicht persönlich, dann zumindest vom Sehen oder dem Namen nach. Sprachlich wird deshalb ganz präzise unterschieden zwischen einem „ich kenne dich“ und im Gegensatz dazu dem distanzierteren „ich weiß, wer du bist“.
Es liegt auf der Hand, dass in einer derart kleinen Bevölkerung auch der Verwandtschaftsgrad überdurchschnittlich hoch ist. „Alle Isländer sind Verwandte siebten Grades.“ So oder so ähnlich taucht diese Behauptung immer wieder einmal auf. Inwieweit sie wirklich zutrifft, weiß ich nicht. Aber eines ist gewiss: Islands genetischer Pool ist überschaubar und über Generationen hinweg zurückverfolgbar. Ein wahres Eldorado für Erbforscher! Das isländische Genforschungszentrum Íslensk erfðagreining oder einfacher deCODE genetics ist Genen auf der Spur, die mit Krankheiten wie Diabetes, Thrombose, Schlaganfall, Herzinfarkt oder Krebs in Verbindung stehen. Erklärtes Ziel der Forschungen ist es unter anderem, entsprechende Medikamente zu entwickeln. Der isländische Schriftsteller Arnaldur Indriðason 1 fand in Sachen Genforschung zwar kein Erbmaterial, mit seinem Roman Nordermoor aber höchst erfolgreichen Krimistoff.
deCODE genetics rief Ende der 1990er Jahre in Zusammenarbeit mit Friðrik Skúlason – der hatte etwa zehn Jahre zuvor die Anfänge gemacht – das Isländerbuch Íslendingabók ins Leben, das jedoch nicht mit dem gleichnamigen historischen „Buch der Isländer“ zu verwechseln ist. Letzteres entstand um 1120 und zählt damit zu den frühesten isländischen Schriftstücken. Es enthält Islandgeschichte vom Moment der „Landnahme“ an, als die ersten Siedler im Jahr 874 nach Christus auf die Insel kamen bis in die Zeit seines Urhebers Ari Þorgilsson (1067 bis 1148), auch Ari der Weise genannt.
Das „genetische“ Íslendingabók dagegen ist ein höchst bemerkenswertes Verzeichnis, das in seiner Art einmalig auf der Welt sein dürfte. An die 740.000 Individuen und ihre verwandtschaftlichen Beziehungen sind darin systematisch erfasst. Bis in die Landnahmezeit gehen manche Daten zurück. Mit Hilfe dieser Aufzeichnungen lassen sich nicht nur erblich bedingte Krankheiten zurückverfolgen. Auch der ganz gewöhnliche Bürger kann Ahnenforschung per Internet betreiben und interessante Einzelheiten über sich selbst und seine Familie herausfinden. Als registrierter Benutzer findet man neben dem eigenen Namen, Geburtsdatum und –ort auch entsprechende Daten über Eltern, Geschwister, Halbgeschwister, Partner und Kinder. Ein Stammbaum lässt sich ebenfalls abrufen. Bestimmt hat sich für den einen oder anderen schon manche Überraschung aufgetan: bislang ungeahnte (Halb)geschwister, frühere Partner des Lebensgefährten oder gar die Verwandtschaft mit einer historischen Berühmtheit. Auch ich bin im Íslendingabók verzeichnet, als Partner eines gebürtigen Isländers und Mutter eines halbisländischen Kindes.
In der Regel bewegt sich die lebende Island-Prominenz völlig frei über die Heimatinsel, ohne Bodygard und Aufsehen seitens der Restbevölkerung. Wo sonst wenn nicht hier klopfte auf einer Konferenz, die ich mitbetreute, der damalige Premierminister Halldór Ásgrímsson (2004 bis 2006) bei mir an die Küchentüre. Ob er nicht einen Bissen zum Essen bekommen könnte, er wäre nämlich in der Kaffeepause nicht dazu gekommen. Selbstverständlich Halldór, bitteschön! Selbst ich als Normalbürger darf ohne Hemmungen auf jeden zugehen und ihn ansprechen. Auch wer darauf Wert legt, einmal einem echten Staatspräsidenten die Hand zu schütteln, hat hier gute Chancen, zum Beispiel als Student an der Universität von Island. Denn Ólafur lädt regelmäßig zu sich nach Bessastaðir ein, dem
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