Zwischen Licht und Dunkel
Kinderfrage getrost in ein „ Wieviele Kinder hast du?“ umformulieren.
Ein kleiner Stadtbummel genügt und diese Einstellung wird offensichtlich: wo man nur hinsieht, wimmelt es vor Kindern und solchen, die es noch werden wollen. Frauen schieben stolz Babykugeln vor sich her. Kinderwägen rollen überall und ihnen wird uneingeschränkte Vorfahrt gewährt. Bei schönem Wetter krabbeln die Kleinsten unter den Isländern auf den Stadtwiesen über bunte, mitgebrachte Decken. Wer auf eigenen Beinen steht, tobt sich anderweitig aus. Kinderstuhl, Wickeltisch und Spielecke stehen ohnehin überall parat. Ein Stadtfest ohne immense Kinderschar ist undenkbar. Und das beste dabei ist: Es stört sich niemand daran.
Oft werde ich von Islandbesuchern auf die vielen Kinderwägen angesprochen, die vor Cafés und Geschäften geparkt sind, mitsamt ihrer lebendigen Fracht, während sich Mama oder Papa eine kleine Pause gönnt oder etwas erledigt. Diese – andernorts undenkbare – Besonderheit fällt auf. Überhaupt stehen Kinderwägen überall. Beim Spaziergang durch Reykjavík stechen sie, mit Tüchern und Decken verhängt, auch in Gärten, auf Balkonen oder vor Haustüren ins Auge. Das isländische Baby schläft tagsüber nämlich grundsätzlich draußen an der frischen Luft. Rund ums Jahr und bei schlechtem Wetter besonders gut eingepackt. Ein Babyphon hält die Eltern auf dem Laufenden. Anfangs hatte sich meine deutsche Seele gegen diese isländische Sitte aufgelehnt – das Baby draußen stehen lassen! – aber ich übernahm sie doch. Mein Kind schläft auch alleine im Auto. Denn ich fühle mich hier sicher.
Ich weiß von einer Fernsehansagerin, die – nach der Entbindung zurück im Job – ihr Neugeborenes mitnahm, um es im Rahmen ihres großen Auftritts den Fernsehzuschauern vorzustellen. Schließlich hatten sie den Winzling über Monate hinweg wachsen sehen. Während ich im Konferenzsektor arbeitete, war einmal ein taufrisch geschlüpftes Baby auf Mamas Dienstversammlung mit von der Partie. In den Besprechungspausen wurde es gestillt. Unsere Anna hatten wir, nur ein paar Monate alt, zweimal im Kino dabei. Anderswo hätte ich mich so etwas nicht getraut, wäre ich doch mit großer Wahrscheinlichkeit auf Missbilligung gestoßen. Hier machte ich mir keine Gedanken deswegen.
Wäre ich selbst Kind auf Island, würde ich über meine Umwelt in etwa so urteilen: Wie schön ist es doch, auf der Welt zu sein! Immer und überall ist man bestens auf mich eingestellt. Ich bin willkommen! Aus Sicht der Mutter kann ich mir kein kinderfreundlicheres Land wünschen.
Nüchterne Zahlen untermauern diesen subjektiven Eindruck. Denn Island führt auch in dieser Beziehung die Statistiken an: Was die Gebärfreudigkeit angeht, ist meine Insel spitze. Während die deutsche Durchschnittsfrau mit 1,3 lebend geborenen Kindern merklich unter dem OECD-Schnitt von 1,7 liegt, bringt es die Isländerin im Laufe ihres Lebens auf 2,1 Kinder. Ganz davon abgesehen, dass sie die schwersten Babys weltweit gebärt, gemessen am mittleren Gewicht voll ausgetragener Neugeborener. Bei einem Durchschnittsalter von sechsunddreißig Jahren ist die isländische Gesellschaft um einiges jünger als die deutsche mit ihren dreiundvierzig Jahren. Dort hat ein Fünftel der Gesamtbevölkerung die 65- Jahre-Marke erreicht oder überschritten. Auf Island ist es nur ein gutes Zehntel. Das sieht man, finde ich. Die Gesellschaft macht einen wunderbar jungen, frischen Eindruck.
Was die Kinderzahl betrifft, ist nur ein einziges Land innerhalb Europas noch fruchtbarer als meine Nordinsel: die Türkei mit 2,2 lebenden Kindern pro Frau. Woran das liegen könnte? Ich nehme einmal an, dass in der Türkei vor allem die Religion der Grund für den Kinderreichtum ist. Auf Island dürfte er nach meiner Einschätzung ganz andere Ursachen haben. Wenn ich nämlich so sehe, welche Freiheiten die Jugendlichen hier genießen … Ich muss nur einmal aus meinem Küchenfenster sehen: Der Basketballkorb auf dem Schulhof gegenüber ist fast immer belagert, ganz unabhängig von Wetter und Uhrzeit. Im Sommer herrscht Betrieb bis in die späten Stunden hinein. Von Mai bis August dürfen gemäß Kinderschutzgesetz selbst Dreizehnjährige bis Mitternacht auf eigenen Pfaden wandeln, ohne Begleitung eines Erwachsenen. Für jüngere Kids ist um zehn Uhr Feierabend. Die winterlichen Ausgehzeiten ab September sind für beide Altersklassen jeweils um zwei Stunden kürzer. Die Eltern sehen das gelassen, ist
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