Zwischen Licht und Dunkel
gigantischen Lichtstrahl in den Winterhimmel der Inselhauptstadt.
Um in Reykjavík an das nötige Warmwasser zu kommen, lässt sich der Boden direkt anzapfen. Die über Hauptstadt und Umgebung verteilten, dampfumwaberten Häuschen der Energiewerke Reykjavík zeugen von dieser Praxis. Perlan , „Die Perle“, ist eine nicht zu übersehende Landmarke Reykjavíks. Unzählige Islandbesucher genießen zu allen Jahreszeiten die Aussicht von diesem beinahe futuristisch anmutenden Komplex, dessen Sockel die Heißwasserspeicher der Stadt bilden. Auf den Tanks sitzt das gleichnamige Panorama-Drehrestaurant.
Auch das Geothermal-Kraftwerk Nesjavellir , das östlich von Reykjavík liegt, liefert Heißwasser für die Hauptstadt, über siebenundzwanzig Pipeline-Kilometer. Kaum zu glauben, dass es auf seiner Reise nur knapp 2 °C verliert. So gut ist die Leitung isoliert. Mit einem kleineren Teil des extrem heißen Bodenwassers wird in Nesjavellir obendrein Strom erzeugt, der in Reykjavíks Versorgungsnetz eingespeist wird. Der hohe Druck, mit dem der Wasserdampf aus den Tiefen nach oben kommt, treibt die Turbinen an. Elektrische Energie entstammt außerdem den zahlreichen, über die Insel verstreuten Wasserkraftwerken.
Auch was die Nutzung eines anderen umweltfreundlichen Energieträgers betrifft, ist Island führend: Die ersten mit Wasserstoff betriebenen Stadtbusse wurden 2003 in Betrieb genommen. Seit Frühjahr 2008 wird außerdem die Lichtmaschine eines Reykjavíker Walbeobachtungsbootes mit Wasserstoff betrieben. Als erstes Schiff der Welt! Das macht den dezibel-intensiven Generator überflüssig, der vorher für den nötigen Strom an Bord gesorgt hatte. Wie schön, nun an windstillen Tagen den Motor auf See ausschalten und die Wale in aller Ruhe genießen zu können.
Nicht nur die Tatsache, dass es für den Badefreund ohne Gänsehaut abgeht, ist Islands Naturkräften zu verdanken. Auch dass Gewächshäuser mit üppiger Ernte aufwarten; dass menschliche Behausungen wohlig warm sind. Denn Wasser aus geothermaler Quelle heizt die meisten Gebäude und speist außerdem die Warmwasserleitungen in Bad und Küche, selbstverständlich auch in unserer Wohnung. Quasi im Nebeneffekt können sich Reykjavíks Einwohner das winterliche Schneeräumen sparen. Das erledigt statt dessen die eingebaute Abtauautomatik unter einigen Straßen, Gehsteigen und Plätzen der Stadt. Das Abwasser aus den häuslichen Heizungen ist nämlich immer noch 30 bis 40 °C warm. Um diese Restenergie zu nutzen, sind hin und wieder die Abfluss-Leitungen in engen Schlangenlinien knapp unter der Bodenoberfläche verlegt. Eine Freiluft-Fußbodenheizung … Gibt es das noch einmal auf der Welt? Wo die fehlt, schlägt es zeitweise Schneealarm, das ist die Kehrseite der Medaille. Schließlich kann das Schneeräum-Kommando der Stadt Reykavík unmöglich überall gleichzeitig sein. Wer sich mit dem Kinderwagen rückwärts durch eine ausgewachsene Schneedecke pflügen muss, wird diese Stadt manchmal hassen. „Bei uns auf Island räumt keiner“, kommentierte Stefán seinen ersten Winterbesuch in Nürnberg, als mein Papa treu und brav seiner bürgerlichen Räum- und Streupflicht nachkam und schon vor dem gemeinsamen Frühstück seine Morgenschicht hinter sich hatte.
Ein gutes Stück Vorsicht ist bei der Nutzung des häuslichen Heißwassers allerdings geboten. Selbst wenn es zunächst kalt aus dem Hahn kommt – im Winter hin und wieder so kalt, dass es weh tut – wird es irgendwann 70 bis 80 °C erreichen und damit so heiß sein, dass echte Verbrühungsgefahr besteht. Immer wieder einmal wird von einem verheerenden Unfall berichtet. Die Kampagne „Wärmeaustauscher im Privathaushalt“ kommt daher nicht von ungefähr. Trotzdem war die Heißwasserleitung in unserem Haus bei einer seltenen Frostperiode von minus 10 °C einmal eingefroren. Sie konnte nur mit viel Geduld und einem elektrischen Heizofen wiederbelebt werden. Neben der Temperaturtücke ist dem isländischen Warmwasser diese besondere Schwefelnote eigen. Je nach Standort auf der Insel fällt sie mehr oder weniger aufdringlich aus. Gleich in meinen ersten Stunden auf isländischem Boden, beim Zähneputzen, machte ich damit Bekanntschaft. Und schnell gab ich es auf, mein Essen in Wasser aus dem heißen Hahn zu kochen. Doch kaum ein Nachteil ohne Vorteil: Islandwasser ist so weich, dass ein verkalkter Wasserkocher oder eine hechelnde Kaffeemaschine kein Thema sind.
Reykjavíks Kalt- und damit Trinkwasser kommt
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