Zwischen Liebe und Begierde: Im Königreich der Oyesen (German Edition)
Schicksal überlassen konnte. Wenn sie nicht am Triumphzug gewesen wäre, hätte sie das Los des Prinzen möglicherweise kalt gelassen. Doch nun, wo ihr Herz stets schneller hüpfte, wenn sie an ihn dachte, konnte sie den Prinzen in seinem Unglück unmöglich allein lassen. Sie würde ihm helfen, auch wenn sie dafür ihr Leben aufs Spiel setzen würde. Sie war überrascht, wie leicht es ihr fiel, diesen Entschluss zu fassen.
Der Kerker lag in der Nähe des Waldes, in dem Jasurea vor einer Stunde noch die Königin mit ihrem Liebhaber beobachtet hatte. Statt in den Wald abzubiegen, musste man jedoch einen hohen Hügel besteigen, eine Anhöhe, die auch Kerkerhügel genannt wurde. Auf dem Hügel befand sich ein kleiner Turm, nicht höher als ein Haus. Sein Eingang wurde von zwei königlichen Soldaten bewacht, die ihre Lanzen zu einem X kreuzten.
Der Kerkerhügel lag einsam und verlassen vor Jasurea. An einem Tag wie diesem hatten die Familien besseres zu tun, als sich um Angehörige im Kerker zu kümmern. Sie feierten ausgiebig die Gefangennahme von Nesean Iku, den man nach dem Triumphzug in den königlichen Kerker geworfen hatte.
Obwohl es gegen Abend zuging, schien die Sonne noch immer drückend heiß. Jasurea stapfte langsam den Hügel hinauf in Richtung der Wachen. Sie trug zwei Beutel bei sich. Einer war mit Nahrung gefüllt, der andere mit Wasser. Beide waren sie für den Prinzen bestimmt.
Schweiß rann über Jasureas Stirn. Die Hitze klebte ihr das blaue Kleid an den Körper wie eine zweite Haut. Das Haar, das sie unter einem Tuch versteckt hatte, juckte. Doch sie konnte das Tuch unmöglich abnehmen. Nicht nur, da sie keine Hand frei hatte, sondern auch, weil sie sich als Neseans Verlobte auszugeben gedachte. Als Angehörige des Weizenvolkes hätte sie blondes Haar haben müssen, genau wie Nesean. Um ihre schwarzen Locken zu verbergen, hatte sie sich ein Sonnenschutztuch um den Kopf geschlungen. Dieses würde kein Aufsehen erregen. Frauen wie Männer trugen es in ihrem Königreich, um sich vor den gleißenden Sonnenstrahlen zu schützen.
Obwohl Jasurea schwitzte, lief ihr beim Gedanken an ihr Vorhaben ein kalter Schauer über den Rücken. Eine falsche Identität vorzutäuschen, um sich im königlichen Kerker um Angehörige fremder Völker zu kümmern, galt als Volksverrat. Volksverrat wurde mit dem Tod bestraft. Tod durchs Schwert.
Jasurea erzitterte. Was sie vorhatte, war alles andere als vernünftig. Doch seit sie dem Prinzen auf dem Triumphzug in die Augen geblickt hatte, gehörte Vernunft nicht mehr zu ihren treuen Begleitern.
Jasurea unterdrückte einen schweren Seufzer, als sie den Kerkerhügel erreichte. Zögernd trat sie vor die Wachen. Diese öffneten das Kreuz ihrer Lanzen wortlos, um sie ins Turmhaus treten zu lassen. Glücklicherweise war der kleine schmale Raum, den Jasurea betrat, in schummeriges Dämmerlicht getaucht. Es gab nur ein Fenster in dem Vorraum, der in den Kerker führte. Im runden Turmzimmer gab es nichts weiter als einen Tisch, einen Stuhl und einen alten Mann mit Bart. Er saß hinter dem Tisch, als gehöre er zum Inventar.
Zögernd trat Jasurea zu ihm.
„Name?“, fragte er, ohne aufzublicken, ganz so, als würde er diese Frage tausendmal pro Tag stellen.
Sein Blick lag auf einem großen, aufgeschlagenen Buch. Er hielt einen Stift in der Hand und notierte die Uhrzeit ins Buch. 16.37 Uhr. Jetzt fehlte dem Alten, der über die Besuche der Gefangenen Buch führte, nur noch ihr Name.
„Ayli Mehok“, sagte Jasurea schnell, ehe sie es sich anders überlegen konnte. Der Name, den sie sich ausgedacht hatte, war ein typischer Name für Angehörige des Weizenvolkes. Das musste auch dem Alten bekannt sein. Jetzt hob er den Kopf, musterte sie unverhohlen von Kopf bis Fuß.
Mit Schrecken wurde Jasurea plötzlich bewusst, dass ihre kohleschwarzen Augen sie verraten könnten. Gegen das Schwarz ihrer Augen, die ihrer vorgetäuschten Identität entsprechend eigentlich hätten blau sein müssen, konnte sie nichts tun. Jasurea hoffte nur, dass dem Alten ihre Augenfarbe im dämmerigen Licht des Kerkerturms nicht auffallen würde.
Der Alte musterte sie, schweigend und interessiert. Er schien an ihrer Augenfarbe tatsächlich keinen Anstoß zu nehmen. Das Schummerlicht machte sich zu Jasureas Verbündeten.
„Hm“, murmelte der Alte gedehnt, ohne die Augen von Jasurea zu nehmen. „Du gehörst zu wem?“
War sie zuvor noch so entschlossen gewesen, so zögerte Jasurea nun doch.
„Du
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