Zwischen Liebe und Begierde: Im Königreich der Oyesen (German Edition)
nach Hause zu gelangen, musste Jasurea jedoch die Hauptstraße überqueren. Kopfschüttelnd sah sie sich um.
Was hatte das zu bedeuten? Heute wurde doch nicht etwa der Geburtstag des Königs gefeiert?
Nein, unmöglich, dachte Jasurea. Der königliche Geburtstag lag erst zwei Monate zurück. Die ganze Stadt hatte damals Rabmaz Oyelis 38. Geburtstag gefeiert, ein Fest, das Unsummen von Geld verschlungen hatte. Der König konnte unmöglich beschlossen haben, noch eine „Nachfeier“ durchzuführen.
Die Menschenmenge starrte ungeduldig auf die Hauptstraße, schien nervös auf etwas zu warten. Die Trommelwirbel aus der Ferne näherten sich langsam, schwollen an und wurden immer lauter. Jasurea spürte ein Prickeln auf der Haut. Sie blickte sich fragend um und wandte sich schließlich an eine Frau neben ihr, die etwa Mitte vierzig war, im selben Alter wie ihre Tante.
„Ich bitte um Nachsicht“, sagte sie, die Worte, mit denen man im Königreich der Oyesen um Entschuldigung bat, „aber auf was wird hier gewartet?“
Die Frau blickte Jasurea überrascht an, dann lachte sie, laut und fassungslos. „Auf was? Wohl eher auf wen!“
„Ich bitte um Nachsicht…“
„Du hast es nicht gehört? In der ganzen Stadt haben sie es heute Morgen ausgerufen, alle königlichen Soldaten haben die Nachricht verkündet!“
„Ich war heute Morgen außerhalb der Stadt.“ „Im Kampf gegen das Weizenvolk haben wir einen beträchtlichen Sieg eingefahren“, jubilierte die Frau. „Rate mal, wen unsere Krieger heute Morgen gefangen nehmen konnten?“
Jasurea zuckte nur die Schultern.
„Nesean Iku!“, rief die Frau triumphierend. Einige Umstehende johlten beifällig.
„Nesean Iku?“, wiederholte Jasurea flüsternd. „Der Sohn des Königs des Weizenvolkes?“
„Keinen anderen“, bestätigte die Frau. „Jeden Moment wird ihn der Triumphzug hier durchführen.“
Nun starrte auch Jasurea erwartungsvoll auf die Hauptstraße. Nesean Iku ein Gefangener. Das kam in der Tat einer Sensation gleich.
Jasureas Volk, die Oyesen, führten nun schon seit Jahren Krieg gegen die Mikuken, das Nachbarvolk. Die Oyesen bezeichneten die Mikuken oft auch als „Weizenvolk“, da die Mikuken goldblondes Haar besaßen. Die beiden Völker kämpften um das Grenzgebiet im östlichen Teil des Königreiches, durch das sich der Ru-Fluss schlängelte. Wenn es den Oyesen nun gelungen war, den Prinz des feindlichen Volkes gefangen zu nehmen, so bedeutete dies nach Jahren des Kampfes ein Triumph sondergleichen.
Die Trommelwirbel wurden lauter.
„Er kommt! Er kommt!“, schrie die Frau neben Jasurea.
„Der gefangene Prinz kommt! Zückt eure Tomaten!“, donnerte ein Mann hinter Jasurea.
Gespannt blickte sie die Hauptstraße hinunter. Die Luft flimmerte in der Mittagshitze.
Ihre Tante und das Mittagessen hatte Jasurea inzwischen komplett vergessen.
Da! Da kamen die ersten Trommler, die den Triumphzug anführten. Langsam und gleichmäßig schritten sie voran, wobei sie ihren Instrumenten kraftvolle und siegesgewisse Töne entlockten. Jetzt, da Nesean Iku, Prinz des Nachbarvolkes, ihr Gefangener war, hatten die Oyesen den Kampf so gut wie gewonnen. Ria Iku, König des Weizenvolkes, würde sich auf Verhandlungen einlassen müssen, um seinen Sohn aus dem Kerker der Oyesen zu befreien. Und diese Verhandlungen müssten schnell über den Tisch gehen, wenn die Mikuken nicht wollten, dass ihr Prinz im unterirdischen Kerker der Oyesen verhungerte. Bestimmt würde man den Mikuken-König zum Rückzug aus dem Kampfgebiet am Ru-Fluss bewegen können.
Sie hatten also so gut wie gewonnen!
Jasurea hüpfte vor Freude.
„He, du!“ Der Mann hinter ihr legte ihr eine Hand auf die Schultern. Sie drehte sich zu ihm um.
„Wieso hast du keine Tomaten dabei?“
Bei Triumphzügen wurden die Gefangenen stets mit reifen Tomaten beworfen.
„Ich komme direkt aus dem Wald“, sagte Jasurea entschuldigend.
„Hier. Nimm eine von mir.“ Der stämmige Mann drückte ihr großzügig eine Tomate in die Hand. „Ein großer Tag heute.“
Jasurea nickte aufgeregt. Sie dankte dem Mann und hielt die Tomate fest umschlossen, während sich der Triumphzug im Takt der Trommelwirbel näherte. Fünfzig Musiker an der Spitze, alle schlugen sie die Trommel. Die Menge applaudierte, als die Musiker vorbeizogen. Jasurea stellte sich auf die Zehenspitzen um besser sehen zu können. Ungeduldig wartete sie, bis der letzte Musiker an ihr vorbeigezogen war. Sie reckte und streckte sich.
Dann
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