Zwischen Macht und Verlangen
nächsten Moment wurde Shelbys Aufmerksamkeit von einem Löwenkopf aus schwerem Messing abgelenkt, der als Türklopfer diente. Mit seinem gekrönten Haupt starrte ihr der MacGregor-Löwe mit kalten Augen entgegen.
„Dein Vater scheint nicht zu den Leuten zu gehören, die ihr Licht unter den Scheffel stellen“, bemerkte Shelby trocken.
„Man kann nicht leugnen, dass er einen ausgeprägten Familienstolz besitzt.“ Alan hob den Löwenkopf auf und ließ ihn gegen die Tür fallen. Das dumpfe Donnern im Inneren des Hauses klang wie Gewittergrollen. „Der MacGregor-Clan“, begann Alan mit Pathos und rollendem R, „gehört zu den wenigen Auserwählten, die eine Krone über ihrem Haupte tragen dürfen. Gutes Blut, starker Stamm.“
„Hah!“ Shelbys verächtlicher Ausdruck wich erstaunter Neugier, als Alan in lautes Gelächter ausbrach. „Was ist denn so komisch?“ fragte sie.
Noch ehe er antworten konnte, wurde das große Portal aufgerissen, und ein hoch gewachsener blonder Mann mit wunderschönen blauen Augen stand vor ihnen. Sein offenes Gesicht verriet Intelligenz und Tüchtigkeit. „Du kannst lachen“, sagte er zu Alan. „Dad brüllt und tobt schon seit Stunden. Es geht um Verräter und“, sein Blick streifte Shelby, „ Ungläubige. Hallo“, begrüßte er Shelby. „Die Ungläubige bist sicher du. Ich darf doch du sagen?“
Die sympathische Ironie in seiner Stimme hatte Shelby sofort gewonnen. „Ja zu beidem.“
„Shelby Campbell – mein Bruder Caine.“
„Das erste Mitglied der Campbells, das diese Schwelle überschreitet. Tritt ein auf eigene Gefahr.“ Caine bot Shelby die Hand, als sie das Haus betrat. Sie gleicht einer Meerjungfrau, dachte er. Nicht eigentlich schön, aber verführerisch und nicht leicht zu vergessen.
„Das Dach ist wenigstens nicht eingestürzt“, meinte sie und betrachtete ein Wappenschild an der Wand. „So weit haben wir also noch Glück.“
„Alan!“ Seine Schwester Serena kam trotz ihres mächtigen Leibesumfangs leichtfüßig die Treppe herunter gelaufen. Shelby gefiel diese hoch gewachsene blonde Frau mit den gleichen strahlend blauen Augen, deren feines Gesicht, Freude, Liebe und Humor widerspiegelte. Serena schlang die Arme um Alans Hals. „Ich hab’ dich vermisst!“
„Du siehst prächtig aus, Rena!“ Alan legte vorsichtig seine Hand auf Serenas Bauch. „Daran muss ich mich erst gewöhnen.“
„Das lohnt sich kaum noch“, sagte sie lachend. „Lange wird es nicht mehr dauern. Dad hat übrigens neuerdings die Idee, es könnten Zwillinge sein. Hast du damit etwas zu tun?“ Sie blickte ihrem Bruder prüfend ins Gesicht.
Alan freute sich. „Ein rein taktisches Ablenkungs manöver. Es scheint also geklappt zu haben!“
Serena streckte Shelby beide Hände entgegen. „Sie müssen Shelby sein, herzlich willkommen hier. Wollen wir du sagen?“
Shelby spürte, dass die Warmherzigkeit echt war und ohne jede Neugier.
„Ja, natürlich. Ich freue mich auch. Ich konnte es kaum erwarten, die Frau kennen zu lernen, die Alan das Nasenbein gebrochen hat.“
Serena lehnte sich an einen Stuhl und lachte herzlich. „Es war allerdings ein Versehen, denn er war gemeint“, sie deutete auf Caine, „und hätte es auch verdient.“ Sie hakte Shelby unter und zog sie weiter. „Du sollst den Rest der Familie ken nen lernen. Hoffentlich hat Alan dich vorbereitet.“
„Auf seine Weise – ja!“
„Weißt du was, Shelby, wenn es dir zu mulmig wird, dann gib mir einfach einen Wink. In letzter Zeit genügt ein kleiner, plötzlicher Seufzer, und schon gilt Dads Aufmerksamkeit nur mir.“
Alan blickte ihnen nach. „Sieht so aus, als hätte Rena die Führung übernommen“, murmelte er zufrieden.
Caine klopfte ihm brüderlich auf die Schultern. „Tatsache ist, dass wir es alle nicht erwarten konnten, deine Campbell zu besichtigen, nachdem Dad uns deine Eroberung verkündet hat.“
Es war wirklich nicht notwendig, Alan nach der Ernsthaftigkeit seiner Absichten zu fragen. Des Bruders Gesicht sprach deutlich genug. „Hast du Shelby wenigstens gewarnt? Weiß sie, dass Dad nur bellt und nicht beißt?“
„Keineswegs! Warum sollte ich?“
Shelby blieb an der Schwelle zum Salon stehen und betrachtete das Bild, das sich ihr bot. Links sah sie einen dunkelhaarigen jüngeren Mann in einem breiten alten Sessel sitzen. Er rauchte und wirkte sehr ruhig, aber Shelby hatte den Eindruck, dass er sehr flink sein konnte, wenn es darauf ankam. Auf der Lehne seines Sessels saß
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