Zwischen Nacht und Dunkel - King, S: Zwischen Nacht und Dunkel - Full Dark, No Stars
durchquerte das Foyer, um einen Blick in den Hauptraum zu werfen. Er war riesig und stank nach Bier. Die Discokugel an der Decke war jetzt dunkel und bewegte sich nicht. Der Holzboden erinnerte sie an die Rollschuhbahn, auf der ihre Freundinnen und sie in dem Sommer zwischen achter Klasse und Highschool praktisch gelebt hatten. Die Instrumente waren noch auf dem Podium, was darauf schließen ließ, dass die Zombie
Bakers heute Abend zurückkehren würden, um noch einmal die Bude zu rocken.
»Hallo?« Ihre Stimme echote.
»Hier bin ich«, antwortete eine leise Stimme hinter ihr.
25
Wäre es eine Männerstimme gewesen, hätte Tess gekreischt. Sie schaffte es, das nicht zu tun, warf sich aber so rasch herum, dass sie leicht stolperte. Die in der Garderobennische stehende Frau - ein mageres kleines Ding, sicher nicht größer als einen Meter sechzig - blinzelte überrascht, dann sagte sie: »Brrr, ganz ruhig.«
»Sie haben mich erschreckt«, sagte Tess.
»Ja, das sehe ich.« Das schmale, perfekt ovale Gesicht der Frau war von einer Wolke aus toupiertem schwarzem Haar umgeben. Über dem rechten Ohr ragte ein Bleistift heraus. Sie hatte lebhafte blaue Augen, deren Farbe nicht ganz übereinstimmte. Ein Picasso-Girl, dachte Tess. »Ich war im Büro. Sind Sie die Expedition-Lady oder die Honda-Lady?«
»Expedition.«
»Haben Sie einen Ausweis?«
»Sogar zwei, aber nur einen mit Foto. Meinen Reisepass. Das andere Zeug war in meiner Handtasche. In der zweiten Handtasche. Ich dachte, die hätten Sie zufällig.«
»Nein, leider nicht. Haben Sie sie vielleicht unter dem Sitz oder so verstaut? Wir sehen nur im Handschuhfach nach. Und natürlich noch nicht einmal das, wenn der Wagen abgesperrt ist. Ihrer war es nicht, und Ihre Telefonnummer steht auf der Versicherungskarte. Aber wem erzähle ich das. Vielleicht finden Sie Ihre Handtasche ja zu Hause.« Neals
Stimme suggerierte, dass das wenig wahrscheinlich sei. »Ein Ausweis mit Foto ist okay, wenn es Ihnen ähnlich sieht.«
Neal führte Tess zu einer Tür hinter der Garderobe, dann einen schmalen gebogenen Flur entlang, der den Hauptraum umging. An den Wänden hingen weitere Fotos von Bands. An einer Stelle gingen sie durch eine Chlorgaswolke, die Tess in den Augen und ihrer empfindlichen Kehle brannte.
»Wenn Sie glauben, dass die Klos jetzt stinken, sollten Sie mal hier sein, wenn Hochbetrieb herrscht«, sagte Neal, dann fügte sie hinzu: »Oh, das hab ich vergessen - Sie waren ja hier.«
Tess äußerte sich nicht dazu.
Der Korridor endete an einer Tür mit der Aufschrift NUR FÜR PERSONAL. Der Raum dahinter war groß, freundlich und voller Morgensonne. An einer Wand hing ein gerahmtes Foto von Barack Obama über einem Stoßstangenaufkleber mit dem Slogan YES WE CAN. Tess konnte ihr Taxi nicht sehen - das Gebäude versperrte ihr die Sicht -, aber sie konnte seinen Schatten erkennen.
Das ist gut. Bleib dort stehen, und verdien dir deine zehn Scheinchen. Und geh nicht rein, wenn ich nicht rauskomme. Ru f nur die Polizei.
Neal setzte sich an den Schreibtisch, der in der Ecke des Raums stand. »Dann zeigen Sie mal Ihren Ausweis.«
Tess öffnete ihre Handtasche, griff an dem Revolver vorbei und holte ihren Reisepass und den Mitgliedsausweis der Authors Guild heraus. Neal warf nur einen flüchtigen Blick in den Pass, aber als sie den Schriftstellerausweis sah, bekam sie große Augen. »Sie sind die Willow-Grove-Lady!«
Tess lächelte tapfer, obwohl ihr davon die Lippen schmerzten. »Schuldig im Sinne der Anklage.« Ihre Stimme klang heiser, so als hätte sie eben eine schlimme Erkältung hinter sich.
»Meine Oma liebt diese Bücher!«
»Das tun viele Omas«, sagte Tess. »Sobald diese Vorliebe auf die nächste Generation übergeht - die noch keine Renten bezieht -, kaufe ich mir einen Landsitz in Frankreich.«
Der Spruch brachte ihr manchmal ein Lächeln ein. Nicht jedoch von Ms. Neal. »Hoffentlich ist das nicht hier passiert.« Genauer drückte sie sich nicht aus, aber das war auch nicht notwendig. Tess wusste, was sie meinte, und Betsy Neal wusste, dass sie es wusste.
Tess überlegte, ob sie die Story, die sie Patsy aufgetischt hatte, zum zweiten Mal erzählen sollte - der piepsende Rauchmelder, die Katze zwischen ihren Füßen, die Kollision mit dem Endpfosten des Treppengeländers -, und sparte sich dann die Mühe. Diese Frau war tagsüber sicher sehr tüchtig und besuchte das Stagger Inn vermutlich so selten wie möglich, wenn hier Betrieb herrschte, aber
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