Zwischen Nacht und Dunkel - King, S: Zwischen Nacht und Dunkel - Full Dark, No Stars
auf. Dann brachte sie den Film zu Blockbuster zurück und fragte nach Der Todeskuss. Den hatten sie nicht, aber nach zehnminütiger Suche entschied sie sich für einen Ersatz, der Das letzte Haus links hieß. Sie nahm ihn mit nach Hause und sah ihn sich aufmerksam an. In dem Film vergewaltigten Männer ein junges Mädchen und ließen es als tot liegen. Das Ganze war ihrem eigenen Schicksal so ähnlich, dass Tess in Tränen ausbrach und so laut weinte, dass Fritzy aus dem Zimmer flüchtete. Aber sie hielt durch und wurde mit einem Happy End belohnt: Die Eltern des jungen Mädchens ermordeten die Vergewaltiger.
Sie steckte die DVD wieder in ihre Hülle und legte sie auf den Tisch in der Diele. Den Film würde sie morgen zurückbringen, wenn sie dann noch lebte. Das hatte sie zwar vor, aber nichts war gewiss; es gab viele seltsame Wendungen und Irrwege, während man den überwucherten Häschenpfad namens Leben hinunterhoppelte. Wie Tess aus leidvoller eigener Erfahrung wusste.
Weil sie noch Zeit totzuschlagen hatte - die Tageslichtstunden schienen quälend langsam zu vergehen -, surfte sie
noch einmal im Internet und suchte Informationen über die Schwierigkeiten, die Al Strehlke gehabt haben soll, bevor sein Vater Selbstmord verübte. Sie fand nichts. Vielleicht hatte der Nachbar nur Scheiß geredet (das taten Nachbarn oft), aber Tess konnte sich ein anderes Szenario vorstellen: Vielleicht war die Sache passiert, als Strehlke noch nicht volljährig gewesen war. In solchen Fällen wurden die Namen nicht an die Presse weitergegeben, und die Gerichtsakten (falls die Sache vor Gericht gekommen war) blieben unter Verschluss.
»Aber vielleicht ist er schlimmer geworden«, erklärte sie Fritzy.
»Solche Kerle werden oft schlimmer«, stimmte Fritzy zu. (Das war ungewöhnlich; im Allgemeinen war eher Tom ihrer Meinung. Fritzys Rolle war meist die des Advocatus diaboli .)
»Einige Jahre später ist dann wieder etwas passiert. Etwas Schlimmeres. Vielleicht hat Mama ihm geholfen, es zu vertuschen …«
»Vergiss den jüngeren Bruder nicht«, sagte Fritzy. »Lester. Auch er kann darin verwickelt gewesen sein.«
»Verwirr mich nicht mit zu vielen Personen, Fritzy. Ich weiß nur, dass Al ›Big Driver‹, dieser Scheißkerl, mich vergewaltigt hat und dass seine Mutter als Komplizin infrage kommt. Das genügt mir.«
»Vielleicht ist Ramona ja auch seine Tante«, sagte Fritzy.
»Ach, halt die Klappe«, sagte Tess, und Fritzy gehorchte.
32
Sie legte sich um vier Uhr nachmittags hin und rechnete damit, keine Sekunde schlafen zu können, aber ihr heilender Körper setzte eigene Prioritäten. Sie war fast augenblicklich weg, und als sie von dem drängenden Dah-dah-dah ihres Radioweckers aufwachte, war sie froh, ihn gestellt zu haben. Draußen kämmte ein böiger Oktoberwind Blätter von den Bäumen und ließ sie in bunten Wolken über den Rasen wirbeln. Das Licht hatte die seltsame Goldfärbung ohne Tiefe angenommen, die eine exklusive Eigenschaft von Spätherbstnachmittagen in Neuengland zu sein schien.
Ihrer Nase ging es besser - dort waren die Schmerzen zu einem dumpfen Pochen abgeklungen -, aber ihr Hals tat noch immer weh, und sie humpelte eher ins Bad, als dass sie normal ging. Sie stellte sich unter die Dusche, drehte das Wasser so heiß auf, wie sie es aushalten konnte, und blieb in der Kabine, bis ihre Haut krebsrot und das Bad so neblig wie ein englisches Moor in einem Sherlock-Holmes-Roman war. Das Duschen hatte geholfen. Ein paar Tylenol aus dem Medizinschränkchen würden noch mehr bringen.
Sie frottierte sich die Haare, dann rieb sie den beschlagenen Spiegel ein Stück weit frei. Das Spiegelbild erwiderte ihren Blick mit Augen, in denen Zorn und Vernunft glosten. Das Glas beschlug rasch wieder, blieb jedoch lange genug klar, um Tess zweifelsfrei erkennen zu lassen, dass sie diese Sache wirklich ohne Rücksicht auf Konsequenzen durchziehen wollte.
Zu dem schwarzen Rollkragenpullover zog sie eine schwarze Cargohose mit geräumigen aufgesetzten Taschen an. Dann fasste sie ihr Haar zu einem Knoten zusammen und stülpte eine große schwarze Baseballmütze darüber. Der Haarknoten beulte die Mütze hinten etwas aus, aber wenigstens würde kein potenzieller Zeuge sagen können:
Ihr Gesicht hab ich nicht richtig erkannt, aber sie hatte langes blondes Haar. Es war hinten mit einem dieser Haargummis zusammengefasst. Sie wissen schon, die Dinger, die man bei J. C. Penney kriegt.
Sie ging in den Keller hinunter, in dem ihr
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