Zwischen Nacht und Dunkel - King, S: Zwischen Nacht und Dunkel - Full Dark, No Stars
Wohnzimmer zurück. Ich liebe die Trapp-Familie, wenn sie richtig rockt!«
»Sie sind verrückt«, sagte Ramona, aber sie setzte sich wieder in Bewegung. Sie trug Schuhe. Sogar zu ihrem Morgenmantel trug sie große hässliche Schuhe. Herrenschnürschuhe. »Ich habe keine Ahnung, was Sie hier wollen, aber …«
»Erzählen Sie mir keinen Scheiß, Mama. Trauen Sie sich das bloß nicht. Alles hat auf Ihrem Gesicht gestanden, als Sie die Tür geöffnet haben. Restlos alles. Sie dachten, ich wär tot, was?«
»Ich weiß nicht, was Sie …«
»Wir Mädels sind hier unter uns, Schätzchen, warum nicht einfach alles zugeben?«
Jetzt waren sie im Wohnzimmer. An den Wänden hingen kitschige Ölbilder - Clowns, Waisen mit großen Augen -, und viele der Tische und Regale waren mit Kitsch vollgestellt: Schneekugeln, Trollbabys, Hummel-Figuren, Glücksbärchis, ein Pfefferkuchenhaus à la Hänsel und Gretel aus Porzellan. Obwohl Norville von Beruf Bibliothekarin war, waren nirgends Bücher zu sehen. Dem Fernseher gegenüber stand ein La-Z-Boy mit einem Lederkissen als Fußhocker.
Neben dem Sessel stand ein TV-Tablett mit einer Packung Cheez Doodles, einer großen Flasche Cola light, der Fernbedienung und einem aufgeschlagenen TV Guide . Auf dem Fernseher stand ein gerahmtes Foto, das Ramona und eine weitere Frau zeigte, die sich umarmten und dabei die Wangen aneinanderlegten. Es schien auf einem Jahrmarkt oder in einem Vergnügungspark gemacht worden zu sein. Vor diesem Foto stand eine gläserne Konfektschale, die unter der Deckenleuchte von innen heraus glitzerte.
»Wie lange machen Sie das schon?«
»Ich weiß nicht, was Sie meinen.«
»Wie lange sind Sie schon Zuhälterin für den Vergewaltiger und Mörder, der Ihr Sohn ist?«
Norvilles Blick flackerte erneut, aber sie leugnete wieder … was Tess vor ein Problem stellte. Als sie hergekommen war, war ihr die Ermordung Ramona Norvilles nicht nur als Möglichkeit, sondern als wahrscheinlichstes Ende erschienen. Tess war sich ziemlich sicher gewesen, dass sie das hinbekam, dass die Bootsleine in der linken Vordertasche ihrer Cargohose unbenutzt bleiben würde. Nun stellte sie jedoch fest, dass sie nicht weitermachen konnte, bevor die Frau ihre Komplizenschaft gestand. Was auf deren Gesicht gestanden hatte, als sie Tess vor der Haustür hatte stehen sehen - grün und blau geschlagen, aber sonst sehr lebendig -, reichte nämlich nicht aus.
Nicht ganz.
»Wann hat es angefangen? Wie alt war er? Fünfzehn? Hat er behauptet, er hätte ›nur Spaß gemacht‹? Das behaupten anfangs viele von denen.«
»Ich habe keine Ahnung, was Sie meinen. Sie kommen in die Bibliothek, liefern eine ganz annehmbare Lesung ab - etwas glanzlos, Sie waren offenbar nur wegen des Geldes da, aber damit war wenigstens die Lücke im Veranstaltungsplan ausgefüllt -, und als Nächstes stehen Sie vor meiner
Tür, fuchteln mit einer Waffe herum und erheben alle möglichen wilden …«
»Sparen Sie sich die Mühe, Ramona. Ich habe sein Foto auf der Website von Red Hawk gesehen. Mitsamt dem roten Ring. Er hat mich vergewaltigt und wollte mich umbringen. Er dachte, er hätte mich umgebracht. Und Sie haben mich zu ihm geschickt. «
Norvilles Mund öffnete sich in einer gruseligen Kombination aus Schock, Verzweiflung und Schuldgefühlen. »Nein, das stimmt nicht! Du blöde Fotze, du weißt nicht, wovon du redest!« Sie setzte sich wieder in Bewegung.
Tess hob den Revolver. »Ähäh, tun Sie das nicht. Nein.«
Norville machte halt, aber Tess glaubte nicht, dass die Frau lange stehen bleiben würde. Sie sammelte ihren Mut, um zu flüchten oder zu kämpfen. Und weil sie wusste, dass Tess sie verfolgen würde, wenn sie tiefer ins Haus flüchtete, würde sie wahrscheinlich kämpfen.
Die Trapp-Familie sang wieder. In der Situation, in der Tess sich befand - in die sie sich selbst gebracht hatte -, war all dieser fröhliche Choralscheiß unerträglich. Tess ließ den Smith & Wesson mit der rechten Hand auf Norville gerichtet, griff mit der linken nach der Fernbedienung und stellte den Ton ab. Als sie die Fernbedienung wieder hinlegen wollte, erstarrte sie. Auf dem Fernseher standen zwei Dinge, aber anfangs hatte sie nur das Foto von Ramona und ihrer Freundin richtig wahrgenommen; die Konfektschale hatte sie lediglich mit einem Blick gestreift.
Jetzt sah sie, dass das Glitzern, das sie dem Kristallglasschliff der Schale zugeschrieben hatte, nicht von außen kam. Es rührte von etwas her, das darin lag. In der
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