Zwischen Nacht und Dunkel - King, S: Zwischen Nacht und Dunkel - Full Dark, No Stars
Kajak seit Anfang September lagerte, und nahm die Rolle mit gelber Bootsleine aus dem Regal darüber. Mit der Heckenschere schnitt sie zwei Meter davon ab, wickelte die Leine über dem Unterarm auf und verstaute das Bündel dann in einer ihrer geräumigen Hosentaschen. Oben in der Küche steckte sie ihr Schweizer Messer in dieselbe Tasche - die linke. In die rechte Tasche kam der Smith & Wesson Kaliber.38 … und ein weiterer Gegenstand, den sie aus der Schublade neben dem Herd nahm. Dann füllte sie Fritzys Fressnapf mit einer doppelten Portion. Bevor sie ihn fressen ließ, drückte sie ihn jedoch erst noch an sich und küsste ihn oben auf den Kopf. Der alte Kater legte die Ohren an (wahrscheinlich mehr aus Überraschung als aus Widerwillen; sie war normalerweise kein küssendes Frauchen) und lief zu seinem Napf, sobald sie ihn absetzte.
»Teil dir das gut ein«, ermahnte Tess ihn. »Falls ich nicht zurückkomme, sieht zwar Patsy irgendwann nach dir, aber das kann ein paar Tage dauern.« Sie lächelte schwach und fügte hinzu: »Ich liebe dich, du klappriges altes Ding.«
Fritzy gab keine Antwort. Er war zu sehr mit Fressen beschäftigt.
Tess überflog noch einmal ihren NICHT ERWISCHEN LASSEN-Merkzettel, überprüfte in Gedanken ihre Ausrüstung und rekapitulierte die Schritte, die sie unternehmen wollte, sobald sie die Lacemaker Lane erreichte. Vor allem würde sie darauf gefasst sein müssen, dass bei weitem nicht alles so ablief, wie erhofft. Bei solchen Sachen enthielt der Kartenstapel immer ein paar Joker. Ramona war vielleicht nicht zu Hause. Oder sie war da, hatte Besuch von ihrem
Sohn, dem Vergewaltiger und Mörder, und die beiden hatten es sich im Wohnzimmer mit etwas Erbaulichem aus der Videothek gemütlich gemacht. Vielleicht mit Saw . Der jüngere Bruder - in Colewich bestimmt als Little Driver bekannt - konnte ebenfalls dort sein. Vielleicht war Ramona an diesem Abend Gastgeberin einer Tupperparty oder eines Literaturzirkels. Wichtig war vor allem, sich nicht durch unerwartete Ereignisse verwirren zu lassen. Wenn sie nicht entsprechend improvisieren konnte, hielt Tess es für sehr wahrscheinlich, dass sie ihr Haus in Stoke Village heute zum letzten Mal verlassen würde.
Sie verbrannte den NICHT ERWISCHEN LASSEN-Merkzettel im Kamin, verteilte die Asche mit dem Schüreisen, zog dann ihre Lederjacke an und streifte dünne schwarze Lederhandschuhe über. Die Jacke hatte eine tiefe Innentasche. Tess steckte eines ihrer Küchenmesser hinein, nur als Rückversicherung, und ermahnte sich dann, nicht zu vergessen, dass es dort war. Das Letzte, was sie an diesem Wochenende brauchte, war eine versehentliche Brustamputation.
Kurz bevor sie aus der Haustür trat, schaltete sie die Alarmanlage ein.
Der Wind fiel sofort über sie her und ließ ihren Jackenkragen und die Beine der Cargohose flattern. Minizyklone wirbelten Laub auf. An dem nicht ganz dunklen Himmel über ihrem geschmackvollen kleinen Stück des vorstädtischen Connecticut zogen Wolken vor einem Dreiviertelmond vorbei. Eine wundervolle Nacht für einen Horrorfilm, fand Tess.
Sie stieg in den Expedition und knallte die Fahrertür zu. Ein Blatt fiel auf die Windschutzscheibe, wurde aber gleich wieder fortgeweht. »Ich habe den Verstand verloren«, sagte sie nüchtern. »Er ist rausgefallen und in der Wellblechröhre gestorben - oder als ich im Kreis um den Laden geirrt bin.
Das ist die einzig mögliche Erklärung für das, was ich hier mache.«
Sie ließ den Motor an. Tom das TomTom wurde hell und sagte: »Hallo, Tess. Wie ich sehe, machen wir einen Trip.«
»Richtig, mein Freund.« Tess beugte sich nach vorn und gab die Adresse 75 Lacemaker Lane, Brewster, in Toms aufgeräumtes elektronisches Gedächtnis ein.
33
Sie hatte sich Ramonas Wohnviertel mit Google Earth angesehen, und als sie hinkam, sah dort alles unverändert aus. So weit, so gut. Brewster war eine Kleinstadt in Neuengland, die Lacemaker Lane lag am Ortsrand, und die Häuser standen auf großen Grundstücken. Tess fuhr mit gemächlichen kleinstädtischen zwanzig Meilen in der Stunde an der Nummer 75 vorbei und stellte fest, dass im Haus Licht brannte und in der Einfahrt nur ein Auto stand: ein fast neuer Subaru, der förmlich »Bibliothekarin« schrie. Nirgends eine Spur von einem Frontlenker-Pete oder einem anderen großen Sattelschlepper. Auch von keinem alten blauen Pick-up.
Die Straße endete an einer Wendefläche. Tess benutzte sie, kam zurück und bog in Norvilles Einfahrt
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