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Zwischen Nacht und Dunkel - King, S: Zwischen Nacht und Dunkel - Full Dark, No Stars

Titel: Zwischen Nacht und Dunkel - King, S: Zwischen Nacht und Dunkel - Full Dark, No Stars Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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wie eine entfernte Verwandte von der Sorte, der man zu Weihnachten eine Karte schickte, um sie dann wieder bis zum nächsten Mal zu vergessen.
    Weil sie sich nicht entscheiden konnte - und sich wie zerschlagen fühlte -, ging sie wieder nach oben und legte sich ins Bett. Sie schlief vier Stunden lang und war beim Aufstehen so steif, dass sie kaum gehen konnte. Sie nahm zwei extrastarke Tylenol, wartete, bis sie zu wirken begannen, und fuhr dann zu Blockbuster Video. Den Smith & Wesson hatte sie in der Handtasche dabei. Sie glaubte, dass sie ihn in Zukunft immer bei sich haben würde, wenn sie allein unterwegs war.
    Sie betrat den Videoverleih kurz vor Ladenschluss und fragte nach einem Jodie-Foster-Film mit dem Titel Die mutige Frau . Der Angestellte (der grünes Haar hatte, in einem Ohr eine Sicherheitsnadel trug und volle achtzehn Jahre alt
zu sein schien) lächelte nachsichtig und erklärte ihr, der Film heiße in Wirklichkeit Der Fremde in dir . Mr. Retro Punk ergänzte, für fünfzig Cent extra bekäme sie zu dem Film einen Beutel Mikrowellen-Popcorn dazu. Tess hätte fast Nein gesagt, überlegte sich die Sache dann aber anders. »Scheiße, warum nicht?«, sagte sie zu Mr. Retro Punk. »Man lebt nur einmal, stimmt’s?«
    Er musterte sie verblüfft und schien sein Urteil über sie zu revidieren; dann lächelte er und bestätigte, in der Tat erhalte jeder Kunde nur ein Leben.
    Zu Hause bereitete sie das Popcorn zu, legte die DVD ein, machte es sich auf der Couch bequem und stopfte sich ein Kissen in den Rücken, um die tiefe Kratzwunde abzupolstern. Fritzy leistete ihr Gesellschaft, und sie sahen sich gemeinsam an, wie Jodie Foster Jagd auf die Männer (auf die Kerle , wie in Scheißkerle ) machte, die ihren Freund umgebracht hatten. Im Lauf der Handlung legte Foster alle möglichen Kerle um - alle mit einer Pistole. Der Fremde in dir gehörte eindeutig zu jenen Filmen, aber Tess genoss ihn trotzdem. Sie fand, dass er völlig schlüssig war. Sie glaubte auch, in all den Jahren etwas versäumt zu haben: die schwache, aber authentische Katharsis, die Filme wie Der Fremde in dir bewirkten. Als er zu Ende war, sagte sie zu Fritzy: »Ich wollte, Richard Widmark wäre Jodie Foster statt dieser alten Lady im Rollstuhl begegnet, findest du nicht auch?«
    Fritzy stimmte tausendprozentig zu.

30
    Als Tess an diesem Abend im Bett war, während der Oktoberwind immer stürmischer ums Haus heulte und Fritzy eng zusammengerollt neben ihr lag, traf sie eine Übereinkunft mit sich selbst: Wenn sie morgen früh in derselben Stimmung wie jetzt aufwachte, würde sie Ramona Norville aufsuchen und anschließend - je nachdem was sich in der Lacemaker Lane ergab - vielleicht Alvin »Big Driver« Strehlke einen Besuch abstatten. Eher würde sie allerdings wieder einigermaßen vernünftig aufwachen und die Polizei anrufen. Auch nicht anonym; sie würde die Suppe, die andere ihr eingebrockt hatten, auslöffeln. Eine Vergewaltigung nach über vierzig Stunden nachzuweisen würde vermutlich schwierig sein, aber die Spuren körperlicher Misshandlungen waren unverkennbar.
    Und die Frauen in der Röhre: Sie war deren Advokatin, ob ihr das passte oder nicht.
    Morgen werden dir alle diese Rachevorstellungen lächerlich vorkommen. Wie die Wahnideen, die Leute mit hohem Fieber haben.
    Als sie am Sonntag aufwachte, war sie jedoch weiter voll im Neue-Tess-Modus. Sie starrte den Revolver auf dem Nachttisch an und dachte: Ich will ihn gebrauchen. Ich will diese Sache selbst erledigen, und wenn man bedenkt, was ich durchgemacht habe, hab ich es verdient, sie selbst zu erledigen.
    »Aber ich muss mir sicher sein, und ich will natürlich nicht geschnappt werden«, sagte sie zu Fritzy, der aufgestanden war, sich umständlich streckte und sich auf einen weiteren anstrengenden Tag vorbereitete, an dem er herumliegen und häufig aus seinem Napf fressen würde.
    Tess duschte, zog sich an und setzte sich dann mit einem Notizblock auf die Glasveranda. Sie starrte den Rasen hinter
ihrem Haus fast eine Viertelstunde lang an und nahm gelegentlich einen Schluck von ihrem kalt werdenden Tee. Schließlich schrieb sie NICHT ERWISCHEN LASSEN ganz oben auf die erste Seite. Sie betrachtete diese Mahnung nüchtern und fing dann an, sich Notizen zu machen. Wie an allen Tagen, an denen sie an einem Roman arbeitete, fing sie langsam an, steigerte dann aber ihr Tempo.

31
    Gegen zehn Uhr war sie heißhungrig. Sie machte sich einen Riesenbrunch und aß ihn bis zum letzten Bissen

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