Zwischen Nacht und Dunkel - King, S: Zwischen Nacht und Dunkel - Full Dark, No Stars
ab, ohne sich eine Chance zu geben, es sich noch einmal anders zu überlegen. Sie schaltete die Scheinwerfer aus, stellte den Motor ab und atmete lange und tief durch.
»Komm heil wieder, Tess«, sagte Tom von seinem Platz auf dem Instrumentenbrett aus. »Komm heil wieder, dann leite ich dich zu deinem nächsten Ziel.«
»Okay, ich tue mein Bestes.« Sie griff nach ihrem Notizblock (auf dem jetzt nichts mehr stand) und stieg aus. Den Notizblock hielt sie an ihre Jacke gedrückt, während sie zu
Ramona Norvilles Haustür ging. Ihr Mondschatten - vielleicht alles, was von der Alten Tess noch übrig war - glitt neben ihr her.
34
Norvilles Haustür war auf beiden Seiten mit stark facettierten Glasstreifen eingefasst. Obwohl das dicke Glas den Blick verzerrte, konnte Tess eine hübsche Tapete und einen Flur mit Parkettboden erkennen. Auf einem Beistelltisch lag ein Stapel Zeitschriften. Vielleicht waren es auch Kataloge. Der Flur ging in einen großen Raum über, in dem ein Fernseher lief. Sie hörte singende Stimmen, also sah Ramona sich vermutlich nicht Saw an. Viel eher - wenn Tess recht hatte und der Song »Climb Ev’ry Mountain« hieß - sah sie sich Meine Lieder - meine Träume an.
Tess klingelte. Drinnen ertönte ein Dreifachgong, der die ersten drei Noten von »Dixie« zu spielen schien - eine für Neuengland seltsame Wahl, aber wenn Tess sie richtig beurteilte, war Ramona Norville ja auch eine seltsame Frau.
Sie hörte das Trampeln großer Füße und drehte sich halb zur Seite, damit das durchs Glas fallende Licht ihr Gesicht nur teilweise erhellte. Sie hielt den leeren Notizblock nun leicht schräg und machte mit einer behandschuhten Hand Schreibbewegungen. Dabei ließ sie die Schultern etwas hängen. Sie war eine Frau, die irgendeine Umfrage machte. Es war Sonntagabend, sie war müde, sie wollte nur noch die Lieblingszahncreme der Hausherrin erfragen (oder vielleicht ob sie Prince Albert in der Dose habe) und dann heimfahren.
Keine Sorge, Ramona, Sie können ruhig aufmachen, jeder kann sehen, dass ich harmlos bin, dass ich keiner Fliege etwas zuleide tun könnte.
Aus den Augenwinkeln heraus sah sie hinter dem facettierten Glas ein verzerrtes Fischgesicht in ihr Blickfeld schwimmen. Dann folgte eine Pause, die ihr sehr lang erschien, bevor Ramona Norville die Haustür öffnete. »Ja? Was kann ich für Sie …«
Tess wandte sich ihr zu. Das durch die Tür fallende Licht beleuchtete ihr Gesicht. Und der Schock, den sie auf Norvilles Gesicht sah, dieser starke Schock, der ihr die Kinnlade herabsacken ließ, sagte ihr alles, was sie wissen musste.
» Sie? Was machen Sie h…«
Tess zog den Smith & Wesson Kaliber.38 aus der rechten Vordertasche. Auf der Fahrt von Stoke Village hierher hatte sie sich ausgemalt, wie er sich darin verhakte - hatte sich das mit albtraumhafter Klarheit vorgestellt -, aber der Revolver kam glatt heraus.
»Weg von der Tür! Wenn Sie sie zuzumachen versuchen, erschieße ich Sie.«
»Das werden Sie nicht«, sagte Norville. Sie trat nicht zurück, aber sie machte auch keine Anstalten, die Haustür zu schließen. »Sind Sie übergeschnappt?«
»Zurück!«
Norville trug einen weiten blauen Morgenmantel, und als Tess ihn vorn gewaltig anschwellen sah, hob sie den Revolver. »Beim ersten Laut schieße ich. Glauben Sie mir lieber, Sie Miststück, das ist mein voller Ernst.«
Norvilles üppiger Busen verlor schlagartig die Luft. Ihre Lippen waren von den Zähnen zurückgezogen, und die Augen irrlichterten von einer Seite zur anderen. So sah sie nicht wie eine Bibliothekarin aus, wirkte nicht jovial und herzlich. Tess fand eher, dass sie wie eine Ratte aussah, die außerhalb ihres Lochs überrascht worden war.
»Wenn Sie mit dem Ding schießen, hört das die ganze Nachbarschaft.«
Das bezweifelte Tess, aber sie widersprach nicht. »Ihnen kann das egal sein, weil Sie dann tot sind. Los, rein mit Ihnen! Wenn Sie sich zusammenreißen und meine Fragen beantworten, leben Sie morgen früh vielleicht noch.«
Norville wich zurück, und Tess, die den Revolver mit fast ausgestrecktem Arm hielt, trat in die Diele. Sowie sie die Haustür hinter sich schloss - was sie mit der Ferse tat -, blieb Norville neben dem Tischchen mit den Katalogen reglos stehen.
»Kein Grapschen, kein Werfen«, sagte Tess - und merkte an Ramonas zuckenden Mundwinkeln, dass die Frau genau das vorgehabt hatte. »Ich kann in Ihnen lesen wie in einem Buch. Weshalb wäre ich sonst hier? Los, weiter! Ganz bis ins
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