Zwischen Nacht und Dunkel - King, S: Zwischen Nacht und Dunkel - Full Dark, No Stars
Blue-Horse-Schreibblock, den sie oben in Strehlkes Schlafzimmer gefunden hatte. Im ersten Stock gab es vier
Zimmer, aber nur das Schlafzimmer war nicht mit Müll vollgestopft - von eisernen Bettgestellen bis hin zu einem Außenborder von Evinrude, der aussah, als wäre er aus dem dritten Stock gefallen. Weil es Wochen oder Monate gedauert hätte, diese Ansammlung von unbrauchbaren, wertlosen und sinnlosen Dingen zu durchsuchen, konzentrierte Tess sich ganz auf Strehlkes Schlafzimmer und nahm es sorgfältig unter die Lupe. Der Blue-Horse-Block war nur eine Dreingabe gewesen. Was sie in Wirklichkeit suchte, fand sie ganz oben im Kleiderschrank in einer alten Reisetasche, die - nicht sehr erfolgreich - mit alten Ausgaben der National Geographic getarnt war. Sie enthielt ein Knäuel aus Damenslips. Ihr eigener Slip lag obenauf. Tess steckte ihn ein und ersetzte ihn nach Art einer Packratte durch die zwei Meter lange gelbe Bootsleine. Diese Leine in der Trophäentasche eines Mörders und Vergewaltigers würde niemanden überraschen. Außerdem würde Tess sie nicht mehr brauchen.
»Tonto«, sagte der Lone Ranger, »unsere Arbeit hier ist getan.«
Was sie schrieb, während nach Seinfeld Frasier kam und auf Frasier die Lokalnachrichten folgten (jemand aus Chicopee hatte in der Lotterie gewonnen, und jemand anders hatte sich beim Sturz von einem Baugerüst das Rückgrat gebrochen, was sich also irgendwie ausglich), war ein Geständnis in Briefform. Als sie auf Seite fünf anlangte, folgte auf die Lokalnachrichten ein scheinbar endloser Werbespot für Almighty Cleanse. Eben sagte Danny Vierra: »Manche Amerikaner haben nur alle zwei, drei Tage Stuhlgang, und weil das seit Jahren so ist, halten sie es für normal! Aber jeder Arzt, der etwas taugt, wird Ihnen sagen, dass es das nicht ist!«
Der Brief war AN DIE ZUSTÄNDIGEN BEHÖRDEN adressiert, und die ersten vier Seiten bestanden aus einem
einzigen Absatz. In ihrem Kopf klang er wie ein Schrei. Ihre Hand war müde, und der Kugelschreiber, den sie in einer Küchenschublade gefunden hatte (mit dem Werbeaufdruck RED HAWK TRUCKING in verblassendem Gold), schien austrocknen zu wollen, aber sie war Gott sei Dank fast fertig. Während Little Driver sich in seinem La-Z-Boy nach wie vor nicht fürs Fernsehen interessierte, begann sie die Seite fünf endlich mit einem neuen Absatz:
Ich will keine Entschuldigungen dafür vorbringen, was ich getan habe. Auch kann ich nicht behaupten, bei meinen Taten geistig verwirrt gewesen zu sein. Ich war zornig, und ich habe einen Fehler gemacht. So einfach war das. Unter anderen Umständen - unter weniger schrecklichen, meine ich - könnte ich vielleicht sagen: »Das war ein verständlicher Fehler, weil die beiden sich fast wie Zwillinge ähnlich sehen.« Aber es liegen keine anderen Umstände vor.
Ich habe über Wiedergutmachung nachgedacht, während ich hier gesessen, diese Seiten geschrieben und auf seinen Fernseher und den ums Haus heulenden Wind gehorcht habe - nicht etwa weil ich auf Vergebung hoffe, sondern weil es mir falsch erscheint, etwas Böses zu tun, ohne wenigstens zu versuchen, es mit etwas Gutem auszugleichen. (Hier dachte Tess daran, wie der Lotteriegewinner und der Rückgratverletzte sich ausgeglichen hatten, aber dieser Gedanke würde schwierig auszudrücken sein, weil sie so müde war, und sie wusste ohnehin nicht, ob er stichhaltig war.) Ich habe daran gedacht, nach Afrika zu gehen und mit Aids-Opfern zu arbeiten. Ich habe daran gedacht, in New Orleans als Freiwillige in einem Obdachlosenheim oder einer Suppenküche zu arbeiten. Ich habe daran gedacht, die knapp eine Million Dollar, die ich für den Ruhestand zurückgelegt
habe, einer Organisation zu spenden, die sich für die Beendigung von Gewalt gegen Frauen einsetzt. In Connecticut muss es eine solche Vereinigung geben, vielleicht sogar mehrere.
Aber dann habe ich an etwas gedacht, was Doreen Marquis vom Strickclub in jedem Roman mindestens einmal sagt …
Mindestens einmal in jedem Roman sagte Doreen: Mörder übersehen immer das Offenkundige. Darau f könnt ihr euch verlassen, meine Lieben. Und noch während Tess von Wiedergutmachung schrieb, erkannte sie, dass es diese unmöglich geben würde. Weil Doreen völlig recht hatte.
Tess hatte eine Mütze getragen, um keine Haare für eine DNA-Analyse zu hinterlassen. Sie hatte Handschuhe getragen, die sie nie ausgezogen hatte - nicht einmal auf der Fahrt mit Al Strehlkes Pick-up. Es war noch nicht zu spät, dieses
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