Zwischen Nacht und Dunkel - King, S: Zwischen Nacht und Dunkel - Full Dark, No Stars
Diele. Das Bild seiner Zahnbürste im Spiegel (er hätte weiter die aus dem ersten Ehejahr benutzt, glaubte Darcy, wenn sie sie nicht regelmäßig ersetzt hätte). Seine Angewohnheit, sich beim Essen nach jedem zweiten oder dritten Bissen die Lippen mit der Serviette abzutupfen. Sein sorgfältig gepacktes Marschgepäck (immer mit einem zusätzlichen Kompass), bevor Stan und er mit einer Gruppe von Neunjährigen den Dead Man’s Trail in
Angriff nahmen - einen entsetzlich gefährlichen Treck durch die Wälder, der hinter dem Einkaufszentrum Golden Grove begann und bei Weinberg’s Used Car City endete. Der Anblick seiner Fingernägel, immer kurz und sauber. Der Geschmack von Dentyne-Mundwasser, wenn sie sich küssten. Aus diesen und zehntausend weiteren Dingen bestand die geheime Geschichte ihrer Ehe.
Sie wusste, dass er seine eigene Geschichte von ihr haben musste: mit allem von dem Lippenbalsam mit Zimtgeschmack, den sie im Winter benutzte, bis zum Duft ihres Shampoos, wenn er ihren Nacken küsste (das passierte jetzt nicht mehr so oft, aber hin und wieder doch), und dem Klicken ihrer Computertastatur um zwei Uhr morgens in jenen zwei bis drei Nächten im Monat, in denen sie aus irgendeinem Grund keinen Schlaf fand.
Jetzt waren es siebenundzwanzig Jahre oder - sie hatte sich eines Tages damit amüsiert, das mit der Rechnerfunktion ihres Computers auszurechnen - neuntausendachthundertfünfundfünfzig Tage. Fast eine Viertelmillion Stunden und über vierzehn Millionen Minuten. Natürlich war er zur Arbeit außer Haus gewesen, und sie hatte selbst einige Reisen gemacht (die traurigste nach Minneapolis, um bei ihren Eltern zu sein, nachdem ihre Schwester Brandolyn auf tragische Weise tödlich verunglückt war), aber meistens waren sie zusammen gewesen.
Wusste sie alles über ihn? Natürlich nicht. So wenig, wie er alles über sie wusste - beispielsweise wie sie manchmal (meist an Regentagen oder in den Nächten, in denen sie nicht schlafen konnte) Butterfinger oder Baby Ruths verschlang, weiter Schokoriegel in sich hineinstopfte, wenn sie schon längst keine mehr wollte, sogar noch, wenn ihr davon bereits schlecht war. Oder dass sie den neuen Briefträger irgendwie süß fand. Alles konnte man niemals wissen, aber sie glaubte, nach siebenundzwanzig Jahren alles
Wichtige zu wissen. Es war eine gute Ehe, eine der etwa fünfzig Prozent, die über so lange Zeit hinweg gehalten hatten. Das glaubte sie auf dieselbe unreflektierte Weise, wie sie glaubte, die Schwerkraft werde sie auf der Erde halten, wenn sie den Gehsteig entlangging.
Bis zu jener Nacht in der Garage.
2
Die TV-Fernbedienung gab den Geist auf, und im Küchenschrank links neben dem Ausguss fanden sich keine AA-Batterien. Dort lagen Batterien der Größen C und D, sogar eine ungeöffnete Packung der klitzekleinen AAA-Batterien, aber keine verflixten Drecksbatterien der Größe AA. Also ging sie in die Garage hinaus, weil sie wusste, dass Bob dort Duracells gebunkert hatte, und das war alles, was erforderlich war, um ihr gesamtes Leben zu verändern. Als ob jeder in der Luft wäre, hoch oben in der Luft. Ein lächerlicher kleiner Schritt in die falsche Richtung, und schon stürzte man ab.
Zwischen Küche und Garage verlief ein gedeckter Verbindungsgang. Darcy hastete ihn entlang, hielt sich den Hausmantel mit einer Hand am Hals zu - vor zwei Tagen war das lange außergewöhnlich warme Spätherbstwetter umgeschlagen, und jetzt schien es eher November als Oktober zu sein. Der Wind schnappte nach ihren Fesseln. Sie hätte lieber Socken und eine Hose anziehen sollen, aber Two and a Half Men würde in weniger als fünf Minuten kommen, und der verflixte Fernseher steckte bei CNN fest. Wäre Bob da gewesen, hätte sie ihn gebeten, das Programm manuell zu wechseln - dafür gab es irgendwo Knöpfe, vermutlich auf der Rückseite, wo sie nur ein
Mann finden konnte -, und ihn dann hinausgeschickt, damit er Batterien holte. Schließlich war die Garage vor allem sein Reich. Darcy betrat sie nur, um ihren Wagen hinauszufahren - und auch das nur bei schlechtem Wetter; sonst parkte sie auf der Wendefläche der Einfahrt. Aber Bob war in Montpelier, um eine Sammlung Stahlpennys aus dem Zweiten Weltkrieg zu begutachten, und sie war, zumindest vorübergehend, allein für die Casa Anderson verantwortlich.
Sie fummelte nach den drei Schaltern neben der Tür, fand sie und drückte sie mit dem Handballen hoch. Die Neonröhren an der Decke flammten summend auf. Die Garage war
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