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Zwischen Nacht und Dunkel - King, S: Zwischen Nacht und Dunkel - Full Dark, No Stars

Titel: Zwischen Nacht und Dunkel - King, S: Zwischen Nacht und Dunkel - Full Dark, No Stars Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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ich so aufgefunden werde, mit Rattenbissen im toten Gesicht und der unter dem Kleid weggefressenen Unterwäsche, kommst du garantiert drüben in Lincoln auf den Stuhl. Und als Letztes wirst du mein Gesicht sehen. Du wirst mich sehen, wenn dir der Starkstrom die Leber brät und das Herz in Brand setzt, und ich werde grinsen.
    Ich ließ den Deckel herunter und stolperte bis zur Stallwand, wo meine Knie nachgaben. Wäre ich in der Sonne gewesen, wäre ich bestimmt wie Henry in der Nacht zuvor
ohnmächtig geworden. Aber ich war im Schatten, und nachdem ich fünf Minuten lang mit fast auf die Knie herabhängendem Kopf dagehockt hatte, fühlte ich mich allmählich wieder wie ich selbst. Die Ratten hatten sich an sie herangemacht - na und? Erwischten sie uns nicht irgendwann alle? Ratten und Würmer und Käfer? Irgendwann musste auch der massivste Sarg nachgeben und das Leben einlassen, damit es sich vom Tod nährte. Das ist der Lauf der Welt, und was macht das schon? Wenn das Herz zu schlagen aufhört und das Gehirn an Sauerstoffmangel zugrunde geht, entschwebt unsere Seele an einen anderen Ort oder erlischt einfach. So oder so sind wir nicht mehr da, um das Nagen zu spüren, mit dem uns das Fleisch von den Knochen gefressen wird.
    Ich ging zum Haus zurück und hatte die Verandatreppe erreicht, bevor ein Gedanke mich ruckartig stehen bleiben ließ: Was war mit dem Zucken? Was war, wenn sie noch gelebt hatte, als ich sie in den Brunnen geworfen hatte? Was war, wenn sie noch immer gelebt hatte, gelähmt und außerstande, auch nur einen ihrer zerschnittenen Finger zu bewegen, als die Ratten aus dem Rohr kamen und mit ihren Verwüstungen begannen? Was war, wenn sie die eine gespürt hatte, die in ihren praktischerweise vergrößerten Mund gekrochen war und angefangen hatte, ihre…?
    »Nein«, flüsterte ich. »Sie hat nichts gespürt, weil sie nicht gezuckt hat. Bestimmt nicht. Sie war tot, als ich sie reingeworfen habe.«
    »Papa?«, rief Henry mit schlaftrunkener Stimme. »Bist du das, Paps?«
    »Ja.«
    »Mit wem redest du?«
    »Niemand. Mit mir selbst.«
    Ich ging hinein. Er saß in Unterwäsche am Küchentisch, sah benommen und unglücklich aus. Sein Haar, das in widerspenstigen
Büscheln vom Kopf abstand, erinnerte mich an den kleinen Frechdachs, der er einst gewesen war - der mit seinem Hund Boo (in jenem Sommer längst tot) auf den Fersen lachend über den Hof getollt war und die Hühner gejagt hatte.
    »Ich wollte, wir hätten es nicht getan«, sagte er, als ich mich ihm gegenübersetzte.
    »Was geschehen ist, lässt sich nicht rückgängig machen«, sagte ich. »Wie oft habe ich dir das schon erklärt, Junge?«
    »Ungefähr eine Million Mal.« Er ließ einige Sekunden lang den Kopf hängen, dann sah er zu mir auf. Seine rot geränderten Augen waren blutunterlaufen. »Werden wir geschnappt? Müssen wir ins Gefängnis? Oder…«
    »Nein. Ich habe einen Plan.«
    »Du hattest einen Plan, dass sie keine Schmerzen haben sollte! Du siehst ja, wie der ausgegangen ist!«
    Mich juckte es in der Hand, ihn dafür zu ohrfeigen, deshalb hielt ich sie mit der anderen fest. Jetzt war nicht der richtige Augenblick für gegenseitige Vorwürfe. Außerdem hatte er recht. Was schiefgegangen war, war alles meine Schuld. Bis auf die Ratten, dachte ich. Für die kann ich nichts. Konnte ich doch. Natürlich konnte ich was dafür. Wäre ich nicht gewesen, hätte Arlette jetzt am Herd gestanden, um das Abendessen zu kochen. Vermutlich hätte sie mir dauernd wegen der 70 Hektar zugesetzt, wäre aber gesund und munter gewesen, statt im Brunnen zu liegen.
    Die Ratten sind bestimmt schon wieder da, flüsterte eine Stimme tief in meinem Kopf. Um weiter an ihr zu fressen. Erst verzehren sie die besten Stücke, die leckeren Stücke, die Delikatessen , und dann …
    Henry griff über den Tisch und berührte meine verkrampften Hände. Ich fuhr zusammen.
    »Tut mir leid«, sagte er. »Wir sitzen im selben Boot.«
    Ich liebte ihn dafür.

    »Wir kommen zurecht, Hank; wenn wir einen kühlen Kopf bewahren, kann uns nichts passieren. Hör mir jetzt zu.«
    Er hörte zu. Irgendwann begann er zu nicken. Als ich fertig war, stellte er eine Frage: Wann würden wir den Brunnen zuschütten?
    »Noch nicht«, sagte ich.
    »Ist das nicht riskant?«
    »Ja«, sagte ich.
     
    Zwei Tage später, als ich ungefähr eine Viertelmeile von der Farm entfernt ein Stück Zaun ausbesserte, sah ich eine große Staubwolke, die sich vom Highway Omaha-Lincoln her auf unserer Straße

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