Zwischen Nacht und Dunkel - King, S: Zwischen Nacht und Dunkel - Full Dark, No Stars
Rodeo war, ganz gleich, wie clever er war - und er war erschreckend clever.
»Eine Frau, die erst sehr spät im Spiel rausbekommt, was ihr Mann ist, befände sich in einer schwierigen Lage«, sagte Ramsey.
»Ja, das kann ich mir vorstellen«, sagte Darcy.
»Wer würde ihr glauben, wenn sie behauptet, sie habe all diese Jahre mit einem Mann zusammengelebt und nie geahnt, was er war? Nun, dann wäre sie ein Wie-heißt-er-gleichwieder, dieser Vogel, der im Maul eines Krokodils lebt?«
»Angeblich«, sagte Darcy, »lässt das Krokodil den Vogel leben, weil der ihm die Zähne säubert. Pickt die Körner in den Zwischenräumen heraus.« Mit den Fingern der rechten Hand machte sie Pickbewegungen. »Das stimmt vermutlich nicht … wahr dagegen ist , dass ich Bobby häufig zum Zahnarzt gefahren habe. Hätte ich’s nicht getan, hätte er seine Termine oft absichtlich ›vergessen‹. In Bezug auf Schmerzen war er schrecklich wehleidig.« Ihre Augen füllten sich unerwartet mit Tränen. Sie verwünschte sich und wischte sie mit den Handballen weg. Dieser Mann würde keine um Robert Anderson vergossenen Tränen respektieren.
Vielleicht täuschte sie sich da aber auch. Ramsey nickte ihr lächelnd zu. »Und ihre Kinder. Die würden unter die Räder geraten, wenn die Welt erführe, dass ihr Vater reihenweise Frauen gefoltert und ermordet hat. Und dann zum zweiten Mal, wenn die Welt glauben müsste, ihre Mutter habe ihn viele Jahre lang gedeckt. Ihm vielleicht sogar geholfen, wie Myra Hindley diesem Ian Brady geholfen hat. Wissen Sie, wer die beiden waren?«
»Nein.«
»Schön, lassen wir das. Aber stellen Sie sich folgende Frage: Was würde eine Frau in einer solch schwierigen Situation tun?«
»Was würden Sie tun, Holt?«
»Das weiß ich nicht. Meine Situation liegt etwas anders. Ich bin vielleicht nur ein alter Klepper - das älteste Pferd im Feuerwehrstall -, aber ich trage eine Verantwortung gegenüber den Angehörigen der ermordeten Frauen. Sie haben ein Recht darauf, dass diese Fälle abgeschlossen werden.«
»Das verdienen sie, gewiss … aber brauchen sie’s auch?«
»Robert Shaverstones Penis war abgebissen, wussten Sie das?«
Das wusste sie nicht. Natürlich nicht. Sie schloss die Augen und spürte heiße Tränen durch die Wimpern quellen. Er musste nicht »leiden«, von wegen!, dachte sie, und wäre Bob jetzt mit bittend erhobenen Händen vor ihr erschienen, hätte sie ihn wieder umgebracht.
»Sein Vater weiß es«, sagte Ramsey. Er sprach leise. »Und er muss tagaus, tagein mit diesem Wissen über sein geliebtes Kind leben.«
»Das tut mir leid«, flüsterte sie. »Das tut mir schrecklich leid.«
Sie spürte, wie er über den Tisch hinweg ihre Hand ergriff. »Wollte Sie nicht aufregen.«
Darcy schüttelte die Hand ab. »Natürlich wollten Sie das! Aber glauben Sie, dass ich das nicht war? Glauben Sie, dass ich das nicht längst war, Sie … Sie neugieriger alter Schnüffler?«
Er lachte glucksend und ließ dabei seine glänzenden falschen Zähne sehen. »O nein, das glaube ich keineswegs. Ich hab’s gleich gesehen, als Sie die Tür geöffnet haben.« Er machte eine Pause, dann fügte er bedächtig hinzu: »Ich habe alles gesehen.«
»Und was sehen Sie jetzt?«
Er stand auf, schwankte leicht, fand sein Gleichgewicht wieder. »Ich sehe eine tapfere Frau, die in Ruhe gelassen werden sollte, damit sie ihre Hausarbeit erledigen kann. Und für den Rest ihres Lebens sowieso.«
Sie stand ebenfalls auf. »Und die Familien der Opfer? Die ein Recht darauf haben, dass die Fälle abgeschlossen werden?« Sie zögerte, weil sie den Rest nicht sagen wollte. Aber das musste sie. Dieser Mann war trotz starker Schmerzen - vielleicht fast unerträglicher Schmerzen - hergekommen,
und nun ließ er sie laufen. Wenigstens glaubte sie das. »Robert Shaverstones Vater?«
»Der Junge ist tot, und sein Vater ist’s praktisch auch.« Ramsey sprach in einem ruhigen, nüchtern urteilenden Ton, den Darcy wiedererkannte. So hatte Bob gesprochen, wenn klar gewesen war, dass ein Mandant seiner Firma vom Finanzamt vorgeladen werden würde und sich auf unangenehme Fragen gefasst machen musste. »Hängt von morgens bis abends an der Whiskeyflasche. Würde sich daran etwas ändern, wenn er wüsste, dass der Mörder seines Sohns - der Verstümmler seines Sohns - tot ist? Das glaube ich nicht. Würde auch nur eines der Opfer dadurch wieder lebendig? Nein. Brennt der Mörder jetzt wegen seiner Schandtaten im Fegefeuer und leidet
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