Zwischen Nacht und Dunkel - King, S: Zwischen Nacht und Dunkel - Full Dark, No Stars
Und ihr Pensionsfonds würde sich sicher über eine weitere Einzahlung freuen.
»Kommen Sie wieder«, sagte Norville.
»Unbedingt«, antwortete Tess.
Als sie anfuhr, sagte das Navi: »Hallo, Tess. Wie ich sehe, machen wir einen Trip.«
»Ja, das tun wir«, sagte sie. »Wie geht’s dir heute Nachmittag?«
Im Gegensatz zu den Computern in SF-Filmen war Tom für leichte Unterhaltung schlecht ausgestattet, obwohl Tess ihm manchmal half. Er forderte sie auf, nach vierhundert Metern rechts abzubiegen und dann die erste Straße links zu nehmen. Die Karte auf dem Display des TomToms zeigte
Straßennamen und grüne Pfeile; seine Informationen sog es aus irgendeiner wirbelnden Hightech-Metallkugel hoch über ihnen.
Sie erreichte bald die Außenbezirke von Chicopee, aber Tom schickte sie kommentarlos an der Abzweigung zur I-84 vorbei aufs Land hinaus, das in Oktoberfarben leuchtete und nach brennendem Herbstlaub roch. Nach etwa zehn Meilen auf etwas, das sich Old County Road nannte - und als Tess sich eben fragte, ob ihr Navi einen Fehler gemacht habe (als ob das möglich wäre) -, sprach Tom wieder.
»Nach einer Meile rechts abbiegen.«
Und tatsächlich sah sie bald einen grünen Wegweiser zur Stagg Road, der so von Schrotkugeln durchlöchert war, dass er fast unleserlich war. Aber natürlich brauchte Tom keine Straßenschilder; wie die Soziologen gesagt hätten (sie hatte Soziologie studiert, bevor sie ihr Talent, über alte Ladys als Detektivinnen zu schreiben, entdeckt hatte), war er fremdbestimmt.
Sie bummeln darau f unge fähr sechzehn Meilen weit, hatte Ramona Norville gesagt, aber Tess bummelte nur ein Dutzend weit. Sie kam um eine Kurve, entdeckte links vor sich ein verfallendes altes Gebäude (auf dem verblassten Schild über der Tankinsel ohne Zapfsäulen stand noch immer ESSO) und sah dann - zu spät - mehrere über die Fahrbahn verteilte große zersplitterte Bretter. Aus vielen ragten rostige Nägel. Tess fuhr über den Höcker, der daran schuld sein musste, dass sie sich von der nachlässig festgezurrten Ladung irgendeines Bauerntölpels gelöst hatten, wollte dann auf den Randstreifen fahren, um dem Müll auszuweichen, und wusste sofort, dass sie es vermutlich nicht schaffen würde; weshalb hätte sie sich sonst Oh-oh sagen hören?
Unter ihr war ein Klack-rums-schepper zu hören, mit dem offenbar Holzstücke gegen Fahrwerk und Unterboden
knallten, und dann begann ihr treuer Expedition zu nicken und wie ein plötzlich lahmendes Pferd nach links zu ziehen. Sie schaffte es, ihn auf den von Unkraut überwucherten Parkplatz des verlassenen Geschäfts zu lenken, weil sie von der Straße wegwollte, damit ihr nicht jemand auffuhr, der vielleicht um die letzte Kurve gerast kam. Auf der Stagg Road war praktisch kein Verkehr, aber einige Fahrzeuge waren ihr doch begegnet, darunter mehrere große Lastwagen.
»Zum Teufel mit dir, Ramona«, sagte sie. Natürlich wusste sie, dass es nicht wirklich die Schuld der Bibliothekarin war; die Vorsitzende (und das vermutlich einzige Mitglied) des Richard-Widmark-Fanclubs, Ortsgruppe Chicopee, hatte nur hilfsbereit sein wollen, aber Tess wusste nun einmal nicht, wie der Blödmann hieß, der diesen mit Nägeln gespickten Scheiß auf der Straße abgeladen hatte und unbekümmert weitergefahren war, deshalb musste Ramona für ihn herhalten.
»Soll ich deine Route neu berechnen, Tess?«, fragte Tom so unvermittelt, dass sie zusammenfuhr.
Sie schaltete das Navi aus und stellte dann auch den Motor ab. Hier draußen war es sehr still. Sie hörte Vogelstimmen, ein metallisches Ticken wie von einer alten Aufziehuhr und sonst nichts. Die gute Nachricht war, dass der Expedition nur nach links vorn geneigt dastand, statt auf ganzer Breite eingeknickt zu sein. Vielleicht war es nur der eine Reifen. Wenn das so war, würde sie keinen Abschleppwagen, sondern nur etwas Hilfe vom Automobilclub brauchen.
Als sie ausstieg und den linken Vorderreifen begutachtete, sah sie daran ein zersplittertes Stück Holz, das von einem im Gummi steckenden langen rostigen Nagel festgehalten wurde. Tess stieß einen einsilbigen Fluch aus, der keinem Mitglied des Strickclubs jemals über die Lippen gekommen wäre, und holte ihr Handy aus dem kleinen
Fach zwischen den Schalensitzen. Jetzt würde sie von Glück sagen können, wenn sie vor Einbruch der Dunkelheit nach Hause kam, und Fritzy würde sich mit seiner Schüssel Trockenfutter in der Speisekammer begnügen müssen. So viel zu Ramona Norvilles
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