Zwischen Nacht und Dunkel - King, S: Zwischen Nacht und Dunkel - Full Dark, No Stars
mit dem Löffel aus, um an den letzten Rest heranzukommen. Der Quark glitt kühl und glatt durch ihre schmerzende
Kehle. Fleisch hätte sie vielleicht ohnehin nicht essen können. Nicht einmal Thunfisch aus der Dose.
Sie trank Apfelsaft direkt aus der Flasche, rülpste und schleppte sich dann ins Bad im Erdgeschoss. Sie nahm den Revolver mit und ließ dabei die Finger aus dem Schutzbügel um den Abzug, wie sie es gelernt hatte.
Auf der Ablage über dem Waschbecken stand ein ovaler Vergrößerungsspiegel, ein Weihnachtsgeschenk ihres Bruders in New Mexico. Am oberen Rand standen in goldener Schreibschrift die Worte Mein hübsches Ich . Die Alte Tess hatte ihn benutzt, um sich die Augenbrauen zu zupfen oder rasch das Make-up nachzubessern. Die Neue Tess begutachtete darin ihre Augen. Sie waren natürlich blutunterlaufen, aber die Pupillen schienen gleich groß zu sein. Sie schaltete das Licht im Bad aus, zählte bis zwanzig, schaltete es dann wieder ein und beobachtete, wie ihre Pupillen sich verengten. Auch das schien in Ordnung zu sein. Also wahrscheinlich kein Schädelbruch. Vielleicht eine Gehirnerschütterung, eine leichte Gehirnerschütterung, aber …
Als ob ich das wüsste. Ich habe einen B. A. von der University o f Connecticut und einen höheren Abschluss in Detektiv spielenden alten Ladys, die mindestens ein Viertel jedes Buchs damit verbringen, Rezepte auszutauschen, die ich aus dem Internet herunterlade und dann so abändere, dass mich niemand als Plagiatorin verklagen kann. Ich könnte nachts ins Koma fallen oder an einer Gehirnblutung sterben. Patsy würde mich au f finden, wenn sie wiederkäme, um die Katze zu füttern. Du musst zum Arzt, Tessa Jean. Und das weißt du.
Sie wusste jedoch, dass ihr Unglück erst recht öffentlich bekanntwerden konnte, wenn sie zu ihrem Arzt ging. Ärzte garantierten Verschwiegenheit, das gehörte zu ihrem Eid, und eine Frau, die von Beruf Anwältin, Putzfrau oder Immobilienmaklerin war, konnte vermutlich darauf zählen.
Vielleicht auch Tess, das war durchaus möglich. Sogar wahrscheinlich. Andererseits brauchte man sich nur anzusehen, was Farrah Fawcett passiert war: Futter für die Sensationspresse, sobald jemand vom Krankenhauspersonal geschwatzt hatte. Tess selbst hatte Gerüchte über die psychiatrischen Missgeschicke eines Schriftstellers gehört, der mit seinen tolldreisten Action-Romanen jahrelang auf den Bestsellerlisten gestanden hatte. Vor kaum zwei Monaten hatte ihre eigene Agentin Tess das pikanteste dieser Gerüchte beim Mittagessen erzählt … und Tess hatte zugehört.
Ich habe mehr getan, als nur zuzuhören, dachte sie, während sie ihr zerschlagenes Gesicht im Vergrößerungsspiegel betrachtete. Ich habe dieses Häppchen weitergegeben, sobald ich nur konnte.
Selbst wenn der Arzt und seine Sprechstundenhilfen nichts über die Krimiautorin erzählten, die auf der Heimfahrt von einer Lesung zusammengeschlagen, vergewaltigt und ausgeraubt worden war … was war mit den anderen Patienten, die Tess vielleicht im Wartezimmer sehen würden? Für einige von ihnen würde sie nicht nur irgendeine misshandelte Frau mit Gesichtsverletzungen sein; sie würde diese in Stoke Village lebende Schriftstellerin sein, du weißt schon, welche ich meine, vor ein, zwei Jahren haben sie einen Film über ihre alten Detektiv-Ladys gedreht, der ist im Lifetime Channel gezeigt worden, und o Gott, du hättest sie sehen sollen!
Die Nase sah nicht allzu schlecht aus. Schief und geschwollen (natürlich, armes Ding) und schmerzend, aber sie konnte durch sie atmen, und oben hatte sie etwas Vicodin, das sie nachts gegen Schmerzen nehmen konnte. Sie glaubte, dass sie zurechtkommen würde, ohne sich die Nase richten zu lassen, und wenn sie in ein, zwei Monaten noch komisch aussah, konnte sie sich ja einer kleinen Rhinoplastik-OP - oder wie man das nannte - unterziehen. Aber sie
hatte zwei prachtvolle Veilchen, eine geschwollene blaugrüne Backe und eine Kette aus Fingerspuren um den Hals. Die war am schlimmsten, die Art Collier, das eine Frau nur auf eine Weise bekam. Außerdem hatte sie verschiedene Blutergüsse, Kratzer und Prellungen an Rücken, Beinen und Hintern. Aber Kleidung und Strümpfe waren als Tarnung Trümpfe.
Klasse. Ich bin eine Dichterin, ohne es zu ahnen.
»Der Hals … ich könnte einen Rollkragenpulli tragen …«
Klar. Oktober war Rollkragenwetter. Und Patsy konnte sie erzählen, sie sei nachts die Treppe hinuntergefallen und habe sich im Gesicht verletzt. Sie
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