Zwischen Nacht und Dunkel - King, S: Zwischen Nacht und Dunkel - Full Dark, No Stars
durchzuckte, als sie - ganz vorsichtig - versuchte,
ihre schiefe Nase gerade zu rücken, ließ sie aufschreien. Na, und wenn schon. Nell Gwynne, die berühmte elisabethanische Schauspielerin, hatte eine schiefe Nase gehabt. Tess wusste ganz sicher, dass sie das irgendwo gelesen hatte.
Sie zog einen Flanellpyjama an, schlurfte zum Bett und lag dann da: alle Lampen eingeschaltet, mit dem Smith & Wesson.38 auf dem Nachttisch. Sie befürchtete, nicht schlafen zu können, weil ihre überreizte Phantasie jedes Geräusch von der Straße herauf in die Annäherung des Giganten verwandeln würde. Aber dann sprang Fritzy aufs Bett, rollte sich neben ihr zusammen und begann zu schnurren. Das war besser.
Ich bin daheim, dachte sie. Ich bin daheim, ich bin daheim, ich bin daheim.
19
Als sie aufwachte, fiel das unbestreitbar nüchterne Licht von sechs Uhr morgens durch die Fenster herein. Es gab Dinge, die getan werden mussten, und Entscheidungen, die getroffen werden mussten, aber vorerst genügte es, zu leben und im eigenen Bett zu liegen, statt draußen auf dem Land in eine Wellblechröhre gestopft zu sein.
Diesmal fühlte das Pinkeln sich fast normal an, und sie sah kein Blut mehr. Sie trat unter die Dusche, stellte das Wasser wieder so heiß, wie sie es aushalten konnte, schloss die Augen und ließ es auf ihr pochendes Gesicht trommeln. Als sie davon genug hatte, massierte sie Shampoo in ihr Haar, arbeitete langsam und systematisch, benutzte ihre Finger, um die Kopfhaut zu massieren, und sparte die schmerzende Stelle aus, wo seine Faust sie getroffen haben musste. Anfangs brannte die tiefe Schramme auf
ihrem Rücken, aber auch das verging, und sie empfand eine Art Seligkeit. An die Duschszene in Psycho dachte sie gar nicht.
Die Dusche war schon immer der Ort, an dem sie am besten nachdenken konnte, eine Umgebung wie im Mutterleib, und wenn sie jemals angestrengt und gut hatte nachdenken müssen, dann war es heute.
Ich will nicht zu Dr. Hedstrom, und ich brauche nicht zu Dr. Hedstrom. Dieser Entschluss steht fest, obwohl ich mich später - vielleicht in ein paar Wochen, wenn mein Gesicht wieder einigermaßen normal aussieht - auf Geschlechtskrankheiten untersuchen lassen muss …
»Vergiss den Aidstest nicht«, sagte sie, und dieser Gedanke ließ sie so stark das Gesicht verziehen, dass ihr der Mund wehtat. Ein beängstigender Gedanke. Trotzdem würde sie den Test machen lassen müssen. Um ihrer eigenen Seelenruhe willen. Aber nichts von alledem ging auf die Frage ein, die sie jetzt als das Hauptproblem dieses Morgens erkannte. Was sie wegen ihrer Vergewaltigung tat oder nicht, war allein ihre Sache, aber das galt nicht für die Frauen in der Röhre. Sie hatten weit mehr verloren als sie. Und was war mit der nächsten Frau, die der Riese überfiel? Dass es weitere geben würde, bezweifelte sie nicht. Vielleicht einen Monat oder ein Jahr lang keine, aber irgendwann bestimmt wieder. Und als sie das Wasser abdrehte, wurde ihr bewusst (erneut), dass sie selbst die Nächste sein konnte, wenn er den Durchlass kontrollierte und sah, dass sie verschwunden war. Wenn er ihre Handtasche durchwühlt hatte, was bestimmt der Fall war, dann hatte er ihre Adresse.
»Außerdem meine Brillantohrringe«, sagte sie und senkte den Kopf, um sich die Haare zu spülen. »Der gottverdammte perverse Scheißkerl hat meine Ohrringe gestohlen.«
Selbst wenn sie die Stagg Road für einige Zeit mied, gehörten diese Frauen jetzt zu ihr. Sie fielen in ihre Verantwortung,
der sie sich nicht entziehen dürfte, nur weil ihr Bild auf dem Cover von Inside View erscheinen könnte.
Im stillen Licht eines Stadtrandmorgens in Connecticut war die Antwort lächerlich einfach: ein anonymer Anruf bei der Polizei. Die Tatsache, dass eine Krimiautorin mit zehn Jahren Berufserfahrung nicht gleich darauf gekommen war, verdiente fast eine Gelbe Karte. Sie würde den Tatort angeben - den verlassenen »DU MAGST ES ES MAG DICH«-Laden an der Stagg Road - und den Riesen beschreiben. Wie schwierig konnte es sein, einen solchen Mann aufzuspüren? Oder einen blauen Ford F-150 mit Bondo-Spachtel um die Scheinwerfer?
Kinderleicht.
Aber während sie sich die Haare trocknete, fiel ihr Blick auf den Smith & Wesson Kaliber.38, und sie dachte: Zu kinderleicht. Weil …
»Was bringt mir das?«, fragte sie Fritzy, der in der Tür saß und sie mit seinen großen grünen Augen beobachtete. »Was ist dann für mich drin?«
20
Eineinhalb Stunden später stand Tess in der Küche.
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