Zwischen Nacht und Dunkel - King, S: Zwischen Nacht und Dunkel - Full Dark, No Stars
Viel davon war äußerst unangenehm gewesen, aber Bewegung war Bewegung. Noch mal einzuschlafen war ganz natürlich. Vielleicht würde sie heute Nachmittag sogar ein zweites Nickerchen machen (und bestimmt nochmals duschen), aber zuvor hatte sie etwas zu erledigen. Einer Verantwortung nachzukommen.
Sie zog einen langen Tweedrock und einen Rollkragenpulli an, der ihr eigentlich zu groß war; er reichte bis zur Unterseite ihres Kinns hinauf. Tess war das nur recht. Auf die Prellung auf ihrer Wange hatte sie Abdeckcreme aufgetragen. Es verdeckte sie nicht völlig, und auch ihre größte Sonnenbrille konnte die blauen Augen nicht ganz tarnen
(ihre geschwollenen Lippen waren ein aussichtsloser Fall), aber das Make-up half trotzdem. Allein das Auftragen bewirkte, dass sie sich mehr im Leben verankert fühlte. Dass sie es mehr unter Kontrolle hatte.
Im Erdgeschoss drückte sie die Play-Taste ihres Anrufbeantworters. Die Anruferin war vermutlich Ramona Norville gewesen, die am Tag danach wie üblich nachgefasst hatte: uns hat’s Spaß gemacht, hoffentlich hat’s auch Ihnen Spaß gemacht, das Echo war großartig, kommen Sie bitte wieder (verdammt unwahrscheinlich), bla-bla-bla. Aber es war nicht Ramona. Die Nachricht kam von einer Frau, die sich als Betsy Neal vorstellte. Sie sagte, sie rufe aus dem Stagger Inn an.
»Im Rahmen unserer Kampagne gegen Alkohol am Steuer rufen wir routinemäßig alle Leute an, die ihre Autos nach Lokalschluss auf unserem Parkplatz stehen lassen«, sagte Betsy Neal. »Ihr Ford Expedition, Kennzeichen 775-NSD aus Connecticut, kann bis heute Nachmittag fünf Uhr abgeholt werden. Nach fünf Uhr wird er auf Ihre Kosten zu Excellent Auto Repair, 1500 John Higgins Road, North Colewich, abgeschleppt. Bitte beachten Sie, dass wir Ihre Schlüssel nicht haben, Ma’am. Sie müssen sie mitgenommen haben.« Betsy Neal machte eine Pause. »Wir haben etwas aus Ihrem Besitz, also kommen Sie bitte ins Büro. Denken Sie daran, dass Sie sich irgendwie ausweisen müssen. Danke und schönen Tag noch.«
Tess ließ sich aufs Sofa fallen und lachte. Bevor sie die Tonbandnachricht gehört hatte, hatte sie mit dem Expedition zu dem Einkaufszentrum fahren wollen. Ihre Handtasche war weg, ihr Schlüsselring war weg, ihr verdammtes Auto war weg, aber sie hatte trotzdem in die Einfahrt hinausgehen, einsteigen und …
Sie lehnte sich in die Polster zurück, lachte schallend laut und hämmerte sich mit einer Faust auf den Oberschenkel.
Fritzy, der auf der anderen Seite des Raums unter einem Sessel lag, sah sie an, als wäre sie übergeschnappt. Wir sind hier alle verrückt, also nehmen Sie noch eine Tasse Tee, dachte sie und lachte noch lauter als zuvor.
Als sie endlich aufhörte (nur kam es ihr eher so vor, als liefe ein Federwerk ab), hörte sie sich die Nachricht noch einmal an. Diesmal konzentrierte sie sich auf den Teil, wo Betsy Neal sagte, sie hätten etwas aus ihrem Besitz. Ihre Handtasche? Vielleicht sogar die Brillantohrringe? Aber das wäre zu schön gewesen, um wahr zu sein, oder?
Vor dem Stagger Inn in einem schwarzen Wagen von Royal Limousine vorzufahren wäre vielleicht etwas zu auffällig gewesen, deshalb rief sie die Firma Stoke Village Taxi an. Der Mann von der Zentrale sagte, sie würden sie gegen eine Pauschale von fünfzig Dollar gern zu »The Stagger« (so nannte er den Club) hinausbringen. »Tut mir leid, dass es nicht billiger geht«, sagte er, »aber der Fahrer muss leer zurückfahren.«
»Woher wissen Sie das?«, fragte Tess erstaunt.
»Sie haben Ihren Wagen dortgelassen, stimmt’s? Das passiert dauernd, vor allem an Wochenenden. Natürlich bekommen wir auch Anrufe nach Karaoke-Donnerstagen. Ihr Taxi kommt in spätestens fünfzehn Minuten.«
Tess aß eine Pop-Tart (das Schlucken tat weh, aber sie hatte den ersten Frühstücksversuch nun einmal von sich gegeben und war hungrig), dann stand sie am Wohnzimmerfenster, hielt Ausschau nach dem Taxi und spielte dabei mit dem Reserveschlüssel des Expedition. Sie hatte sich dazu entschlossen, ihren Plan abzuändern. Die Stoke Village Mall war out; sobald sie ihren Wagen wiederhatte (und den Gegenstand aus ihrem Besitz, den Betsy Neal für sie aufbewahrte), würde sie ungefähr eine halbe Meile weit zu dem Gas & Dash fahren und die Polizei von dort aus anrufen.
Das erschien ihr nur passend.
23
Als ihr Taxi auf die Stagg Road abbog, begann Tess’ Puls zu jagen. Bis sie das Stagger Inn erreichten, schien er mit hundertdreißig Schlägen in der
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