Zwischen Olivenhainen (German Edition)
sie Raffaello nach all dem fragte. Sie hatte nur scheußliche Angst vor seiner Reaktion. Bestimmt würde er entrüstet sein über ihre – eigentlich Antonios – Anschuldigungen und würde sie kurzerhand aus dem Auto werfen. Aber es nutzte nichts. Sie musste ihn darauf ansprechen, sonst würde sie noch in zehn Jahren genau hier sitzen und völlig irregeworden sein vom vielen Nachdenken. Sie lehnte den Kopf an den harten Stamm und blickte hinauf in die Äste. Auf den Olivenzweigen lag der silbrige Schimmer des Mondlichtes und in diesem Moment beschloss Leslie, sich heute nicht weiter den Kopf zu zerbrechen. Sie betrachtete einfach die Landschaft und stellte fest, wie schön Sizilien eigentlich war. Als ihr irgendwann die Augen zufielen, war es weit nach Mitternacht.
„Leslie!“ Jemand rüttelte sie an den Schultern. Sie schlug die Augen auf. Ihre Lider waren bleischwer, und als sie mit dem Handrücken darüber fuhr, merkte sie, dass es bloß getrocknete Tränen waren, die ihre Wimpern verklebt hatten. Anne saß neben ihr im Gras, schon angezogen, neben ihr stand ein Tablett mit einem Glas Orangensaft und einem Käsebrötchen.
„Wie viel Uhr?“, nuschelte Leslie müde.
„Zwei. Mittag“, sagte Anne. Leslie fuhr hoch.
„Oh, Scheiße!“ Hatte sie tatsächlich so lange geschlafen? Hier im Freien? OhGott, ohGott.
„Ich dachte mir, du könntest vielleicht was zu essen vertragen“, sagte Anne und deutete auf das Tablett. „Ich hab’ schon zu Mittag gegessen.“ Sie lächelte. „Leslie, du siehst aus, als wärst du geschlafwandelt! Was um Himmels Willen hast du mit deinen Haaren angestellt? Überall Zweige …“ Vorsichtig machte sie sich daran, einen Olivenzweig aus Leslies wirren Haaren zu zupfen.
„Du bist doch nicht etwa auf den Baum geklettert?“, fragte sie, aber Leslie schüttelte den Kopf und trank den Orangensaft aus, als wäre sie am Verdursten. Und irgendwie fühlte sie sich auch so. Ausgetrocknet. Fast so, als könne sie jederzeit zusammenbrechen, sobald sie aufstand. Erschöpft lehnte sie sich wieder gegen den Baumstamm. Die harte, knubbelige Rinde drückte unangenehm in ihren Rücken und sie fragte sich, wie sie das die ganze Nacht ausgehalten hatte.
„Ich hab’ nur etwas nachgedacht“, sagte sie irgendwann.
„Aha“, machte Anne. Wahrscheinlich hatte sie vorgehabt, ihr Gespräch gestern Abend zu vergessen.
„Über alles, was mit dem zu tun hat, was Antonio gesagt hat.“
„Aha“, machte Anne wieder. Fast wirkte sie unentschlossen, hin und hergerissen, dann rückte sie mit der Sprache heraus: „Dein Romeo war hier“, sagte sie. Leslie fuhr hoch.
„Was?! Wann?“
„Heute Morgen. So um acht. Er hat nach dir gefragt und ich wollte dich wecken, aber du warst nicht da. Ich habe dich überall im Haus gesucht und dann hab’ ich ihn einfach angelogen und gesagt, du wärst schon einkaufen.“
„Hat er gesagt, was er wollte?“, fragte Leslie. Jetzt schlug ihr Herz rasend schnell. Da fragte sie sich die ganze Zeit über, wann er endlich anrufen würde und als er dann vorbeikam, war sie nicht da. Schlief seelenruhig zwischen Olivenhainen und bekam nicht das Geringste mit. Mist. Aber Anne schüttelte den Kopf.
„Nein“, sagte sie. „Er hat mich nur nach deiner Kleider- und Schuhgröße gefragt, als er schon wieder in seiner Protzkarre saß. Weiß der Himmel, wozu er die braucht!“
„Hast du’s ihm gesagt?“
„Klar. Ganz enttäuscht wollte ich ihn dann doch nicht gehen lassen.“
„Hm“, machte Leslie. Sie fragte sich, wozu er diese Informationen brauchte. Aber vielleicht hatte er das auch nur gesagt, um irgendetwas zu sagen. Etwas mehr oder weniger Vernünftiges.
„Er sagte, er kommt nochmal“, sagte Anne.
„Wann?“ Anne zuckte die Achseln.
„Hat er nicht gesagt.“ Na toll.
„Aber du hast doch sicher seine Handynummer?“ Leslie schüttelte den Kopf.
„Er hat meine“, sagte sie – und da fiel ihr siedend heiß ein, dass sie ihr Handy noch immer in ihrer Badetasche auf dem Bett liegen hatte. Vielleicht hatte er ja schon angerufen oder ihr geschrieben? Sie stand auf, ohne das Käsebrötchen anzurühren, dann lief sie, dicht gefolgt von Anne, ins Haus. Keine Minute später hielt sie ihr Handy in der Hand. Er hatte weder geschrieben, noch angerufen. Was hatte sie auch erwartet?
Den Rest des Tages verbrachte sie mit Anne unten in der kleinen Bucht, ihr Handy immer in den Händen und ab und zu verdrehte Anne schon genervt die Augen, wenn Leslie einen
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