Zwischen Olivenhainen (German Edition)
heulen. Und zu fluchen. Anne fand sie einige Zeit später, noch immer auf dem Bauch liegend, das Gesicht in den Kissen vergraben. Sie setzte sich zu ihr und strich ihr das lange Haar aus dem Gesicht. Einige Strähnen waren nass von ihren Tränen. Anne sagte kein Wort, wartete nur stumm darauf, dass Leslie anfing zu erzählen.
Und das tat sie. Irgendwann, als sie sich ein wenig beruhigt hatte und sie keine Weinattacken mehr schüttelten. Sie erzählte Anne alles, was Antonio zu ihr gesagt hatte.
„Er behauptet, Raffaellos Familie gehöre zur Mafia!“, rief sie wütend in die dicken Kissen hinein, aber Anne schien sie dennoch verstanden zu haben. Anne sagte nichts. Wahrscheinlich dachte sie an all die Zeitungsartikel, die sie im Internet gefunden hatte – und gab Antonio womöglich recht. Ich hätte überhaupt nicht erst davon anfangen sollen, dachte Leslie wütend, sie glaubt ihm ja doch!
„Ich … weiß nicht, ob das alles stimmt …“, sagte Anne sanft und spielte mit einer von Leslies Haarsträhnen. „Es spricht vieles … dafür –“. Mit einem wütenden Schrei schmiss sich Leslie auf das andere Bett, das direkt am Fenster stand. Weg von Anne.
„Aber wenn du ihn so gerne hast, kann er keinen Fehler gemacht haben. Und du auch nicht. Ich vertraue dir“, sagte Anne leise.
„Ich hab’ ihn nicht ‚gerne‘!“, rief Leslie zwischen zwei Schluchzern. „Ich hab’ mich in ihn verliebt, verdammt! Schon wieder!“ Anne sagte nichts mehr. Eine ganze Weile lang blieb sie noch auf dem anderen Bett sitzen, und als Leslie irgendwann den Kopf hob, war es leer. Anne war gegangen.
Später in der Nacht, die Leslie angezogen auf dem Bett verbrachte, dachte sie über etwas nach: Was, wenn es tatsächlich alles der Wahrheit entsprach? Vielleicht nicht alles – aber die Mafiageschichte? Würde dadurch etwas anders sein an Raffaello? Nein, dachte sie. Was, wenn sie es einfach akzeptierte? Sich damit abfand und es nicht weiter beachtete? Es ignorierte. Wenn sie so weitermachte, wie vorher auch? Und dann fragte sie sich, wie sie so sicher sein konnte, dass Antonio die Wahrheit gesagt hatte. Woher sollte er diese Informationen haben? Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Raffaello großen Kontakt zu ihm pflegte, wenn er das denn überhaupt tat, geschweige denn, seine persönlichen Angelegenheiten in die Welt hinaus posaunte. Er ist ihm erst zweimal begegnet, dachte Leslie. Jedenfalls soweit sie es mitbekommen hatte. Das erste Mal, als Raffaello sie auf ein Eis ins eingeladen hatte (obwohl Leslie zugeben musste, dass er damals von einer ‚alten Prügelei unter Schülern‘ gesprochen hatte, nachdem sie ihn nach Antonios seltsamem Verhalten ihm gegenüber gefragt hatte). Das zweite Mal – und eine Gänsehaut lief ihr dabei über den Rücken – bevor Raffaello sie geküsst hatte. Als er gerade aus Rom zurückgekommen war. Was also entsprach der Wahrheit? Vieles hätte sich Antonio einfach nur ausdenken können, um sie gegen Raffaello aufzubringen. Aber was sollte ihm das jetzt noch nutzen, wenn er nicht mehr in sie verliebt war? Und Leslie hoffte inständig, dass er das nicht war. „ Du solltest selbst entscheiden, was du glauben willst und was nicht “, hörte sie Mario wieder sagen. Diesen einen Satz wiederholte sie so oft in Gedanken, bis sie ihr Kopfkissen mit einem unterdrückten Schrei gegen die Wand pfefferte.
Sie setzte sich auf, raufte sich die Haare, die ohnehin vom vielen Wachliegen und Nachdenken völlig verknotet waren und ihr wirr vom Kopf abstanden. Das schmale Bett, auf dem sie saß, stand direkt an einem breiten Fenster. Leslie öffnete es und dann kletterte sie ohne zu zögern über die Fensterbank hinaus ins Freie. Die Nacht war sternenklar, ein leichter, angenehm milder Wind war aufgekommen, und die Olivenbäume, die hinter dem Haus wuchsen, warfen lange Schatten auf das hohe, trockene Gras. Die umliegenden Felder und das nahe Meer wurden in silbernes Licht getaucht, der Mond stand hell und voll am klaren, wolkenlosen Himmel. Grillen zirpten. In den Büschen knackte es. Leslie atmete tief durch und spürte, wie sich ihre Aufregung legte, wie sie allmählich wieder klarer denken konnte.
Sie ging ein paar Schritte zu den Olivenbäumen, ließ sich dann im hohen Gras nieder und lehnte sich gegen einen der dicken, knorrigen, alten Stämme. Sie pflückte einen Grashalm aus der trockenen Erde, riss ihn in kleine Stücke und dann entschied sie, dass sie die Wahrheit nur erfahren würde, wenn
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