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Zwischen Olivenhainen (German Edition)

Zwischen Olivenhainen (German Edition)

Titel: Zwischen Olivenhainen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Wirthl
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riesiger, tiefroter Fleck breitete sich immer weiter auf seinem Hemd aus. Raffaello ließ die Waffe sinken. Leslie drehte sich zu ihm um. Sie erinnert sich daran, wie man atmete – und schnappte nach Luft. Aber es wurde zu einem entsetzten Schluchzen. Ohne Tränen. Nur Entsetzen. Raffaello sicherte die Pistole. Steckte sie in seinen Gürtel und verdeckte sie mit seinem Hemd. Ihr fiel auf, dass er ein Zweites im Arm hielt. Sein blaues, das er so gerne mochte. Er sah sie an, ohne jegliche Gefühlsregung. Mit Pokerface. Aber das unbekannte Glimmen in seinen Augen war verschwunden.

32
    Leslie rannte. Rannte so schnell sie konnte, soweit sie konnte. Das spitze Gras bohrte sich in ihre Fußsohlen, sie blutete, aber das merkte sie nicht. Weg. Nur weg von diesem Ort. Von Francesco. Und Raffaello. Sie rannte weiter. Und hörte, wie Raffaello ihren Namen rief. Sie war so gut wie tot. Vor ihren Augen verschwamm die Umgebung. Er war hinter ihr.
    „Leslie!“ Er rüttelte sie. Sie riss die Augen auf. Registrierte, dass sie noch immer an ein und demselben Ort stand. Zwischen Raffaello und seinem toten Bruder.
    „Leslie, wenn du kollabierst, hole ich einen Krankenwagen“, rief er laut. „Atme, verdammt!“ Er rüttelte sie erneut an den Schultern. Sie holte tief Luft. Das passte nicht zu einem Mörder. Er sollte sie erschießen. Sie war eine unerwünschte Zeugin. Scheiße.
    „Lass – mich los“, stammelte sie. Er tat es.
    „Leslie, ich –“
    „Nicht …“, stotterte sie und ihre Stimme zitterte. Ihre Knie. Alles an ihr zitterte. Aber sie blieb stehen. Blickte ihm direkt in die dunklen Augen, deren Ausdruck jetzt viel weicher geworden war. Und viel mehr Wärme lag in ihnen. Und noch etwas anderes. Hilflosigkeit. Sie verstand nicht, wieso.
    „Leslie“, setzte er noch einmal an, aber sie schüttelte den Kopf. Taumelte einige Schritte zurück, weg von ihm. Sie fiel, krachte mit der Schulter gegen den dicken Stamm eines Olivenbaumes und rutschte mit dem Rücken daran herunter. Sie spürte den Schmerz nicht, als sie sich die Haut an der harten Rinde aufschürfte. Dann saß sie mit angezogenen Knien im hohen Gras, den Blick starr auf die leblose Gestalt Francescos gerichtet. Einige Grashalme verdeckten sein Gesicht.
    „Hier“, sagte Raffaello und hielt ihr sein Hemd entgegen, „deine Sachen sind zu nass.“ Sie nahm es nicht entgegen. Sie schaute ihn auch nicht an. Er ließ das Hemd neben sie auf den Boden fallen.
    „Ich … gehe rein“, sagte er. Dann schwieg er so lange, dass Leslie glaubte, er habe sich in Luft aufgelöst.
    „Wenn du … willst, kannst du irgendwann nachkommen. Oder du kannst gehen. Du brauchst mir nicht Bescheid zu sagen.“ Dann drehte er sich um und ging. Der Mörder von Francesco, seinem eigenen Bruder, entfernte sich. Das Gras raschelte unter seinen Schritten. Und Leslie saß alleine da. Mit Francesco. Mit Raffaellos Hemd. Alleine zwischen Olivenhainen. Irgendwann griff sie nach dem zarten Stoff und zog sein Hemd über. Es roch so wunderbar nach ihm und das fand sie so schrecklich, dass sie weinen musste.
    Später wusste sie nicht, wie lange sie so dagesessen und stumm vor sich hin geschluchzt hatte, als sie die Schritte hörte. Leslies Beine waren eingeschlafen, ihr Rücken und ihre Schultern schmerzten. Sie schluckte, aber ihr Mund war so trocken, wie das Gras, in dem sie saß. Die Männer, die zwischen den Olivenbäumen auftauchten, jagten ihr einen gehörigen Schrecken ein. Sie trugen Gewehre über der Schulter, fünf waren es insgesamt. Raffaellos Wachleute. Beunruhigenderweise schienen sie Leslie nicht zu bemerken. Oder sie hatten die Anweisung erhalten, nicht auf sie zu achten, während sie Francescos Leichnam auf einen Karren luden und sich dann zügig entfernten. Seltsamerweise verspürte sie kein bisschen Angst.
    Eine Weile lang rührte sie sich nicht von der Stelle, wartete, bis sie die Schritte der Männer nicht mehr hören konnte, und kroch dann vorsichtig auf allen Vieren durch das hohe Gras auf die Stelle zu, an der Francesco gelegen hatte. Das Gras war dort platt gedrückt, es richtete sich gerade erst wieder langsam auf. Halme waren umgeknickt – und Leslie musste würgen, als sie den Blutfleck bemerkte. Das Gras und die trockene Erde waren rot verfärbt. Mit einem entsetzten Wimmern und rumorendem Magen drehte sie sich wieder um und lief auf Händen und Knien zurück zu dem Baum, unter dem sie gesessen hatte. Es war besser, sich klein zu machen. Sich zu verstecken.

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