Zwischen Rom und Mekka
Reims studiert und das Reformkloster von Cluny geleitet hatte, der erfolgreich - nach dem fehlgeschlagenen Versuch Gregors VII. (1073-1085) - die Christenheit zur bewaffneten Wallfahrt in das Heilige Land, in die irdische Heimat des Erlösers, aufrief. Berühmte Prediger, wie etwa der französische Einsiedler Peter von Amiens, hatten Vorarbeit geleistet. Im November 1095 hielt der Papst im französischen Clermont eine Predigt, die nicht direkt überliefert ist, die aber Ferdinand Gregorovius, unser Gewährsmann, aus Berichten darüber so konstruiert:
Urban »schilderte kurz die Gefangenschaft der heiligen Stadt des Königs der Könige [Jesus Christus], wo er wandelte, litt und starb; er rief Tränen, Seufzer und die Sprüche der Propheten zu Hilfe, seiner Ermahnung Nachdruck zu geben; er forderte die Christenheit auf, sich einmütig mit dem Schwert zu gürten und Christus aus den Türkenketten zu befreien«.
Das war das eine große und wohl größte Motiv. Ein zweites kam jedoch sogleich hinzu. Das Abendland war im 11. Jahrhundert zwischen geistlich-kirchlicher und weltlicher Macht gespalten und zerrissen. Modern gesprochen, sollte die Aggression von innen nach außen gewendet werden. Deshalb:
»Erhebet euch, kehrt eure Waffen, die von Brudermord triefen, gegen die Feinde des christlichen Glaubens. lhr Unterdrücker der Waisen und Witwen, ihr Meuchelmörder und Tempelschänder, ihr Räuber fremden Gutes, ihr, die ihr Sold nehmt, um Christenblut zu vergießen, die ihr gleich Geiern vom Geruche der Schlachtfelder angezogen werdet: eilt, so ihr eure Seele liebt, unter dem Feldhauptmann Christus zum Schutze Jerusalems auszuziehn. Ihr alle, die ihr solche Verbrechen verschuldetet, die euch vom Reiche Gottes trennen, kauft euch um diesen Preis los, denn dies ist Gottes Wille. Deus lo volt. Deus lo volt.«
Das überzeugte. Fürsten und Ritter, Bischöfe und Prälaten, Bauern und Knechte nähten sich ein rotes Kreuz auf ihr Gewand und zogen los. Der natürliche Gewalttrieb des Menschen wurde von religiöser Inbrunst verstärkt.
Es erschien Ferdinand Gregorovius um die Mitte des 19. Jahrhunderts überflüssig und »töricht«, den damals im Mittelalter ausbrechenden religiösen Wahnsinn nun in aufgeklärten Zeiten immer wieder als Tollheit zu verurteilen. Denn, so schreibt er optimistisch: »Das Menschengeschlecht ist glücklicherweise unfähig geworden, für religiöse Vorstellungen mörderische Heerfahrten zu unternehmen.« Gregorovius ahnte nicht, dass man in den nächsten Jahrzehnten noch für ganz andere Wahnideen, atheistischer Herkunft, nationalistische, kommunistische und rassistische Ideologien Völkermord begehen würde. Und dass schließlich an der Jahrtausendwende der Albtraum eines religiösen Terrorismus wieder auferstehen könnte.
Was treibt Religiöse zur Gewalt?
Was bewog Urban II. zu dieser Predigt, was trieb die Menschen am Ende des 11. Jahrhunderts und danach bis zum Zusammenbruch der Kreuzzüge? Was treibt heute religiöse Terroristen zu Anschlägen oder Religiöse zur Gewalt?
Die historischen Parallelen erscheinen beunruhigend.
Am Ende des 11. Jahrhunderts ergab sich eine neue Weltlage. Seit fast einem halben Jahrtausend hatten muslimische Mächte, aus Arabien kommend, doch schnell im Süden des Mittelmeers voranschreitend, mit Erfolg gegen die Christenheit gedrängt. Im Osten gegen das Byzantinische Reich mit den orthodoxen Christen, die gerade, seit 1054, von der lateinischen Kirche unter dem Papst getrennt waren. Im Westen gegen die Nachfolgereiche des Imperium Romanum. Nun war im westlichen Europa aus vielerlei Gründen alles erstarkt: Kaiser und Könige, Städte und kirchliche Bistümer und nicht zuletzt die italienischen Seerepubliken Amalfi, Gaeta und Neapel, Venedig, Genua und Pisa. Das Abendland, noch vor Kurzem in der Auseinandersetzung zwischen Papst und Kaiser hin- und hergerissen
- die im Investiturstreit gipfelte und das tägliche Leben in allen Bereichen spaltete -, schien bereit, den Kampf mit einer fremden Kultur, religiös gestärkt, den Krieg mit einer fremden Religion aufzunehmen, um der eigenen Identität und Selbstachtung willen.
Des inneren Streits überdrüssig, überließen sich die abendländischen Völker dem einigenden Aufruf des Papstes. Der selbst dadurch an Macht und Ansehen gewann, indem er »den großen Glaubenskrieg entfesselte«. So der Historiker Johannes Haller, wenn er bilanziert: »Rom sicherte sich die Beherrschung des Abendlands, nicht mehr nur die
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