Zwischen uns das Meer (German Edition)
voller juristischer Fachbücher, einem abgenutzten Holzboden, zwei Sesseln und einem schwarzen Ledersofa. Neben dem Computer stand ein Foto seiner Familie, der einzige Hinweis auf den privaten Michael Zarkades.
Er warf seine Aktentasche auf den Schreibtisch, ging zum Fenster und starrte hinunter auf die Stadt, die sein Vater geliebt hatte. Auf der Glasscheibe sah er schemenhaft sein Spiegelbild: welliges dunkles Haar, breites Gesicht, dunkle Augen. Das Bild seines Vaters als jüngerer Mann. Aber hatte sein Vater sich je so müde und ausgelaugt gefühlt?
Da klopfte es hinter ihm und die Tür ging auf. Herein kam Bill Antham, der beste Freund seines Vaters und neben Michael der einzige Seniorpartner der Kanzlei. Die Monate seit Dads Tod hatten bei Bill ebenfalls ihre Spuren hinterlassen. Vielleicht auch bei allen anderen.
»Hey, Michael«, sagte er und hinkte zu ihm. Michael wurde mit jedem Schritt daran erinnert, dass Bill längst in den Ruhestand hätte gehen müssen. Im Vorjahr hatte er zwei neue Kniegelenke bekommen.
»Setz dich, Bill«, bat Michael und wies auf den Sessel in der Nähe des Schreibtischs.
»Danke.« Bill nahm Platz. »Ich muss dich um einen Gefallen bitten.«
Michael ging wieder zu seinem Schreibtisch. »Klar, Bill. Was kann ich für dich tun?«
»Ich war gestern im Gericht und wurde von Richter Runyon festgenagelt.«
Seufzend setzte sich Michael. Es war üblich, dass Strafverteidiger Fälle vom Gericht zugewiesen bekamen – das war die Sache mit dem Sollten Sie einen Anwalt brauchen und sich keinen leisten können . Und es kam oft vor, dass die Richter dem Anwalt den Fall aufbrummten, der gerade zufällig in der Nähe war.
»Worum geht’s?«
»Ein Mann hat seine Frau umgebracht. Angeblich. Er hat sich in seinem Haus verbarrikadiert und seine Frau durch einen Kopfschuss getötet. Das SWAT -Team hat ihn rausgeholt, bevor er sich selbst töten konnte. Ein Teil der Aktion wurde live im Fernsehen übertragen.«
Ein schuldiger Klient, der bei der Tat gefilmt wurde. Großartig. »Und jetzt soll ich den Fall für dich übernehmen.«
»Ich würde es dir nicht zumuten … wenn Nancy und ich nicht in zwei Wochen nach Mexiko fahren würden.«
»Klar«, erwiderte Michael. »Kein Problem.«
Bills Blick wanderte durch den Raum. »Ich denke immer noch, er könnte jeden Moment hier auftauchen«, sagte er leise.
»Ja«, bestätigte Michael.
Einen Augenblick lang sahen sie sich an und erinnerten sich an den Mann, der ihr Leben geprägt hatte. Dann stand Bill auf, dankte Michael noch einmal und ging.
Danach vertiefte sich Michael in seine Arbeit und vergaß alles andere. Er studierte stundenlang Zeugenaussagen, Polizeiberichte und Schriftsätze. Er hatte schon immer eine ausgeprägte Arbeitsmoral und ein noch ausgeprägteres Pflichtgefühl besessen. In der steigenden Flut seiner Trauer war die Arbeit sein Rettungsring.
Um drei Uhr meldete sich Ann über die Sprechanlage. »Michael? Jolene auf Leitung eins.«
»Danke, Ann.«
»Sie haben nicht vergessen, dass heute ihr Geburtstag ist, oder?«
Mist.
Er stieß sich von seinem Schreibtisch ab und schnappte sich den Hörer. »Hey, Jo. Herzlichen Glückwunsch.«
»Danke.«
Sie machte ihm keine Vorwürfe, dass er ihren Geburtstag vergessen hatte, obwohl sie es sicher wusste. Er kannte keinen Menschen, der seine Gefühle derart unter Kontrolle hatte wie Jolene, und so etwas wie Wut hätte sie niemals zugelassen. Manchmal fragte er sich, ob es ihnen nicht ganz gut tun würde, sich mal zu streiten, aber zu einem Streit gehörten nun mal zwei. »Ich mach’s wieder gut. Wie wär’s, wenn wir in diesem neuen Restaurant oberhalb der Marina essen gehen würden?«
Bevor sie etwas einwenden konnte (was sie immer tat, wenn etwas nicht ihre eigene Idee war), sagte er: »Betsy ist alt genug, um mal ein, zwei Stündchen auf Lulu aufzupassen. Außerdem sind wir nur eine Meile von zu Hause entfernt.«
Diese Auseinandersetzung führten sie mittlerweile knapp ein Jahr. Michael war der Meinung, dass eine Zwölfjährige als Babysitter arbeiten konnte, Jolene aber nicht. Und wie bei allem in ihrem Leben wurde gemacht, was Jolene für richtig hielt. Das war er gewohnt – und hatte es satt.
»Ich weiß, dass du viel Arbeit mit dem Woerner-Fall hast«, wandte sie ein. »Wie wär’s, wenn die Kinder früh zu Abend essen und dann einen Film gucken, während ich uns was Schönes koche? Oder ich könnte was Leckeres vom Bistro mitbringen; da essen wir doch immer so
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