Zwischen uns das Meer (German Edition)
Angeklagte – schuldig oder nicht – und schützen damit auch die Unschuldigen.
Ich könnte ein paar Unschuldige mehr gebrauchen, Dad.
Wer nicht? Wir warten doch alle auf den einen Fall, der alles aufwiegt. Wir wissen besser als die meisten Menschen, wie es ist, jemandem das Leben zu retten. Etwas zu bewirken. Doch genau das tun wir, Michael. Verlier nicht die Hoffnung.
Er blickte auf den leeren Stuhl ihm gegenüber.
Jetzt fuhr er schon seit elf Monaten allein zur Arbeit. Gerade war sein Vater noch gesund und munter an seiner Seite gewesen und hatte über seine geliebte Arbeit geredet. Dann war er plötzlich krank geworden. Und gestorben.
Michael und sein Vater waren fast zwanzig Jahre lang Partner gewesen und hatten zusammengearbeitet. Sein Verlust hatte ihn tief getroffen. Er trauerte um ihre gemeinsame Zeit, doch vor allem fühlte er sich neuerdings einsam. Sein Verlust brachte ihn dazu, sein Leben zu betrachten. Und was er sah, gefiel ihm nicht.
Bis zum Tod seines Vaters hatte sich Michael stets vom Glück begünstigt gefühlt, war glücklich gewesen; aber jetzt nicht mehr.
Er wollte gern mit jemandem über seinen Verlust und all das reden. Aber mit wem? Mit seiner Frau war das nicht möglich, denn Jolene glaubte, dass Glück etwas war, für das man sich entscheiden konnte. Dass man allem stets mit einem Lächeln begegnen sollte. Wegen ihrer zerrissenen, unglücklichen Kindheit hatte sie keine Geduld mit Menschen, die sich nicht für das Glück entscheiden konnten. Zwar dachte sie, sie wüsste, was Trauer ist, weil auch sie ihre Eltern verloren hatte. Aber sie hatte keine Ahnung, wie es sich anfühlte, in Trauer zu ertrinken. Wie auch? Sie war stark, an ihr glitt alles ab.
Michael klopfte mit seinem Stift auf den Tisch und blickte aus dem Fenster. An diesem Tag war der Sund eisengrau und wirkte einsam und unergründlich. Eine Möwe ließ sich auf einem unsichtbaren Luftstrom vorbeitreiben. Es sah aus, als wäre sie mitten in ihrer Bewegung erstarrt.
Er hätte Jolene vor all den Jahren nicht nachgeben dürfen, als sie ihn anflehte, das Haus an der Liberty Bay zu kaufen. Zwar hatte er ihr erklärt, dass er nicht so weit außerhalb wohnen wollte – und nicht so nahe bei seinen Eltern –, aber am Ende hatte er sich von ihren Überredungskünsten und dem Argument, dass sie wegen der Kinder die Hilfe seiner Mutter bräuchte, erweichen lassen. Doch hätte er nicht nachgegeben und die Auseinandersetzung um ihren Wohnort verloren, dann säße er jetzt nicht täglich auf einer Fähre und vermisste den Mann, der sich hier mit ihm traf …
Als die Fähre ihre Fahrt verlangsamte, stand Michael auf, sammelte seine Unterlagen ein und steckte sie zurück in seine schwarze Lederaktentasche. Er hatte nicht mal einen Blick hineingeworfen. Zusammen mit den anderen Passagieren stieg er die Treppe zum Parkdeck hinunter. Wenige Minuten später fuhr er von der Fähre und steuerte zum Smith Tower, der einst das größte Gebäude westlich von New York gewesen war, aber jetzt nur noch wie ein gotisch anmutendes Relikt in einer aufstrebenden Stadt wirkte.
Bei Zarkades, Antham und Zarkades im neunten Stock war alles alt: Gänge, reparaturbedürftige Fenster, zu viele Schichten Farbe – aber die Räume waren, wie das Gebäude selbst, geschichtsträchtig und schön. Riesige Panoramafenster blickten auf die Elliott Bay und die großen orangefarbenen Kräne, die die Containerschiffe beluden. In diesen Räumen hatte Theo Zarkades die Verteidigung einiger der größten und wichtigsten Strafprozesse der letzten zwanzig Jahre vorbereitet. Andere Anwälte sprachen bei Versammlungen ihres Berufsverbands, der Bar Association, immer noch fast ehrfürchtig von seiner Fähigkeit, die Geschworenen zu überzeugen.
»Hey, Michael«, grüßte die Empfangsdame lächelnd.
Er winkte kurz und ging weiter, vorbei an ernsten Assistenten, müden Anwaltsgehilfinnen und ehrgeizigen Juniorpartnern. Alle lächelten ihn an, und er erwiderte ihr Lächeln. Am Eckbüro – das früher seinem Vater und jetzt ihm gehörte – blieb er kurz stehen, um sich mit seiner Sekretärin zu unterhalten. »Guten Morgen, Ann.«
»Guten Morgen, Michael. Bill möchte Sie sehen.«
»Ist gut. Sagen Sie ihm, ich sei da.«
»Möchten Sie einen Kaffee?«
»Ja, gerne. Danke.«
Er ging in sein Büro, das größte der Kanzlei. Ein riesiges Fenster bot Ausblick auf die Elliott Bay; die Aussicht war das eigentlich Attraktive an dem ansonsten ganz normalen Büro mit den Regalen
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