Zwischen uns die Zeit (German Edition)
das Foto, das sie mitgeschickt haben. Es zeigt sechs Menschen, die vor einem Haus stehen und sich umarmen. Mutter, Vater und vier Kinder. Zwei Zwillingsmädchen in bunten Kleidern, ein Junge, der ein paar Jahre älter zu sein scheint als ich, und ein Mädchen in meinem Alter.
Ich blicke von dem Foto auf, sehe die Weltkarte und habe plötzlich das dringende Bedürfnis, sie von einem Symbol meiner geplatzten Träume und Hoffnungen wieder zu einem Abbild der Wirklichkeit zu machen.
Als ich fertig bin, stecken nur noch acht Nadeln in der Karte.
Springfield, Illinois.
Ely, Minnesota.
Grand Rapids, Michigan.
South Bend, Indiana.
Ko Tao, Thailand.
Devil’s Lake State Park, Wisconsin.
Vernazza, Italien.
San Francisco, Kalifornien.
Acht Nadeln, die mir bei Weitem nicht genügen, aber zumindest völlig zu Recht da stecken, wo sie sind. Genau wie die Neunte, die schon bald dazukommen wird.
37
Beim Abendessen strahlen Mom und Dad förmlich um die Wette, was wahrscheinlich daran liegt, dass ich endlich wieder lachen kann und mich unbeschwert mit ihnen über den Tag unterhalte, statt still und in mich gekehrt in meinem Essen herumzustochern. Allerdings fürchte ich, dass ihnen die gute Laune bald wieder vergehen wird. » Es gibt da etwas, worüber ich gern mit euch reden würde«, sage ich schließlich in einer Gesprächspause. » Es geht um die Sommerferien.«
» Klar. Was gibt’s?«, fragt Dad, während er sein Hähnchen zerteilt. Mom sieht mich gespannt an.
» Mein Spanischlehrer hat mich vor Kurzem auf ein Schüleraustauschprogramm in Mexiko angesprochen, das er organisiert, und mir angeboten, daran teilzunehmen. Es gibt noch einen freien Platz bei einer sehr netten Familie, die er persönlich kennt. In La Paz.« Ich halte die Luft an. Jetzt ist es raus und alles hängt davon ab, wie meine Eltern reagieren.
Die beiden werfen sich einen überraschten Blick zu.
» Ich weiß, dass das jetzt ein bisschen plötzlich kommt«, sage ich hastig. » Aber es ist eine einmalige Chance, die sich mir vielleicht nie wieder bietet. Ihr wisst ja, dass ich immer davon geträumt habe, zu reisen und andere Kulturen kennenzulernen und … vielleicht tut es mir ja ganz gut, mal eine Weile … von hier weg zu sein.« Nachdem keiner von ihnen etwas sagt, rede ich einfach weiter. » Ihr müsstet mir auch kein Geld dazugeben. Mit dem Reisegutschein, den ich beim Spanisch-Wettbewerb gewonnen habe, kann ich das Flugticket bezahlen, und die Kosten für die Unterbringung und den Sprachkurs übernimmt die Schule.«
Mom runzelt die Stirn. » La Paz?«
» Ja, das ist eine kleine Stadt auf der Baja-Halbinsel, am Golf von Kalifornien.«
» Das ist ziemlich weit weg.«
Ich zucke lächelnd mit den Schultern. » Genau darum geht es, Mom.«
» Also, ich muss sagen, das kommt jetzt wirklich etwas unerwartet.« Sie seufzt und tupft sich mit ihrer Serviette die Lippen ab. » Was weißt du überhaupt über diese Familie?«
Ich springe auf und laufe vom Esszimmer in die Küche, wo ich den Ordner mit den Unterlagen auf der Theke bereitgelegt habe. » Hier.« Ich gebe ihr den Brief mit dem Foto und erzähle, was ich über die Familie weiß. » Er ist Manager in einem großen Unternehmen und sie arbeitet freiberuflich als Naturfotografin. Die beiden haben vier Kinder. Eine der Töchter ist in meinem Alter.« Ich ziehe das Anmeldeformular, das ich bereits ausgefüllt habe, aus der Hülle und lege es neben das Foto. » Ihr müsst nur noch unterschreiben.«
Meine Mutter greift nach dem Formular, überfliegt es kurz und legt es auf den Tisch zurück. » Wann würde es denn losgehen?«
» In zwei Wochen.«
» In zwei Wochen!«
» Ja, ich weiß, dass das ein bisschen knapp ist.«
Dad hat bisher noch nichts gesagt. Seine Miene ist unergründlich, sodass ich nicht einschätzen kann, was er von der ganzen Sache hält. Ich sehe ihn mit flehendem Blick an, in dem die stumme Bitte steht, für mich Partei zu ergreifen.
» Wie lange würdest du denn bleiben?«, fragt er schließlich.
Genau das ist der Knackpunkt. » Das Programm inklusive Sprachkurs dauert zehn Wochen.«
» Aber das sind ja die gesamten Sommerferien!« Mom schiebt ihren Stuhl zurück, greift nach ihrem Glas und geht in die Küche. Mein Vater sieht mich stirnrunzelnd an und atmet hörbar aus.
» Bitte Dad«, flüstere ich.
» Zehn Wochen sind eine lange Zeit«, sagt Dad genau in dem Moment, in dem Mom ins Esszimmer zurückkommt und sich mit einem Glas Leitungswasser wieder zu uns an den
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