Zwischen uns die Zeit (German Edition)
noch nicht, ob es eine gute Entscheidung ist, aber ich versuche zumindest einen anderen Weg einzuschlagen. Den, den ich immer gehen wollte.
Und da trifft mich plötzlich eine Erkenntnis, die mir vor Aufregung fast den Atem verschlägt: Ich befinde mich gerade mitten in einem Neustart, den die andere Anna für mich geplant und arrangiert hat.
36
Je nach Jahreszeit und Witterung wirkt die Atmosphäre in Schiller Woods entweder unglaublich romantisch oder total gruselig. Der Park mit dem ausgedehnten Waldgebiet bietet die perfekte Kulisse für Hochzeiten oder den Dreh eines Horrorfilms. Als Dad durch das Tor auf den Parkplatz fährt, liegt die große Wiese strahlend grün im Sonnenschein vor uns. Ich reiße die Tür auf, steige aus und atme erst einmal tief ein. Alles riecht nach Neuanfang.
» Wahnsinn, ich merke erst jetzt, wie sehr ich das alles vermisst habe«, sage ich und drehe mich zu Dad um. Er wirkt überrascht, mich nach so langer Zeit mal wieder lächeln zu sehen, aber ich kann gar nicht anders, als glücklich sein. Der Crosslauf, der jedes Jahr um diese Zeit stattfindet, wurde von den Trainern unserer Regionalliga irgendwann ins Leben gerufen, um sicherzustellen, dass wir uns, nachdem wir sechs Monate lang auf Kunststoffbahnen statt auf schlammigem Waldboden gelaufen und über Metallhürden statt über quer liegende Baumstämme gesprungen sind, wieder daran erinnern, weshalb wir diesen Sport mit solcher Leidenschaft betreiben. Ich bin den sechs Kilometer langen Parcours oft genug gelaufen, um ihn in- und auswendig zu kennen und zu wissen, an welchen Stellen es kniffelig werden könnte und welche Schwierigkeiten mich erwarten.
Meine Teamkolleginnen haben sich bereits um einen der Picknicktische in der Nähe der Startlinie versammelt und machen Dehn- und Lockerungsübungen. Ich lasse den Blick über die Wiese schweifen, während Dad sich einen Kaffee holen geht. Ein paar Minuten später kehrt er mit einem dampfenden Pappbecher und einer Geländekarte zurück.
» Wie fühlst du dich?«, fragt er, als er die Skizze auf den Tisch legt und sich darüberbeugt.
» Gut. Sogar sehr gut.«
Er sieht auf, als warte er darauf, dass ich mehr dazu sage, aber ich lächle nur. Seit ich vor zwei Tagen die Entscheidung getroffen habe, den Sommer in La Paz zu verbringen, habe ich das Gefühl, allmählich wieder zu mir selbst zurückzufinden. Jetzt muss ich nur noch meine Eltern dazu bringen, mir ihre Erlaubnis zu geben.
» Hast du sie schon entdeckt?«, erkundigt sich Dad leise nach meiner größten Konkurrentin.
Ich beuge das rechte Bein, strecke das linke nach hinten und stütze beide Hände aufs Knie, während ich die Menschenmenge nach ihr absuche. Als ich sie gefunden habe, nicke ich in ihre Richtung. » Da drüben. Die Blonde mit der Startnummer Zweiunddreißig. Blaues T-Shirt.«
» Hmmm.« Er beobachtet sie eine Weile nachdenklich, während ich das andere Bein dehne, dann wendet er seine Aufmerksamkeit schließlich wieder mir zu. » Okay, Annie. Du musst dich vor allem darauf konzentrieren, deinen Rhythmus zu finden. Halt den Druck die ganze Zeit konstant aufrecht, aber achte darauf, dich nicht zu früh zu verausgaben. Zieh an den anderen vorbei, wann immer es geht, und kämpf dich ins Führungsfeld vor, das ist erst einmal das Wichtigste. Erst wenn du das blaue T-Shirt direkt vor dir siehst, gibst du alles. Verstanden?« Er sieht sich wieder um. Eigentlich gibt es keinen Grund, nervös zu sein, schließlich geht es nicht um ein Sportstipendium.
» Verstanden.«
» Hast du dir schon überlegt, wann du zum Sprint ansetzen willst?«, fragt Dad und deutet auf die Geländekarte.
Ich lege den Finger auf die Zeichnung. » Die Wasserpumpe da scheint etwa einen halben Kilometer vom Ziel entfernt zu sein.«
Er wägt die Optionen ab und nickt schließlich. » Ja, das ist gut. Ich glaube, mit dieser Strategie liegst du goldrichtig. In Ordnung, Annie. Dann nehme ich jetzt mal meinen Platz bei den anderen Vätern und Müttern ein.« Er klopft mir auf die Schulter. » Toi, toi, toi.«
» Danke.« Ich atme tief durch, beuge mich vor und schüttle die Arme aus. Nachdem ich mich wieder aufgerichtet habe, hefte ich mir meine Startnummer ans T-Shirt und stelle mich dann zwischen die anderen achtzehn Mädchen, die an der Startlinie warten. Es ist erst sieben Uhr morgens, aber so heiß, dass uns schon jetzt der Schweiß auf der Stirn steht, während wir uns ein letztes Mal lockern und im Geist die Strecke durchgehen. Kurz
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