Zwischen uns die Zeit (German Edition)
darauf ertönt der Startschuss und ich stürme mit meinen Konkurrentinnen in kontrolliertem Tempo über die Wiese in den Wald hinein. Gott, wie ich den weichen, teilweise morastigen Untergrund vermisst habe! Gemeinsam erklimmen wir einen relativ steilen Hang, der mit herabgefallenen Ästen und dichtem Laub bedeckt ist, und tauchen dann tiefer in den Wald ein, wo der Boden noch unebener ist.
Die ersten Kilometer laufen wir noch in der Gruppe und schlittern auf dem teilweise feuchten Boden aneinander vorbei, wenn wir zwischen eng stehenden Bäumen hindurchmüssen. Nach zweieinhalb Kilometern überqueren wir einen flachen Bach und müssen anschließend mit feuchten Schuhen eine Reihe von quer liegenden Baumstämmen überwinden. Ich atme ein und aus, laufe in gleichmäßigem Rhythmus, überspringe die Hindernisse beinahe mechanisch und konzentriere mich ganz auf mich selbst, während ich Kilometer für Kilometer zurücklege und an den anderen Mädchen vorbeiziehe. Über mir ist nichts als blauer Himmel und um mich herum pure Wildnis. Zum ersten Mal seit Wochen merke ich, wie mein Kopf wieder klarer wird, wenn ich mich auch längst nicht so schwerelos fühle wie früher bei solchen Läufen. Obwohl ich gut vorankomme, spüre ich, dass ich nicht so schnell bin, wie ich sein könnte.
Ich höre das Hämmern meines Herzens in den Ohren, richte den Blick nach vorn auf meine Konkurrentinnen, und als wir um eine Biegung laufen und einen schmalen Pfad hinunterstürmen, sehe ich die Wasserpumpe– mein Signal für den finalen Sprint. Ich verlangsame mein Tempo leicht, damit ich von den fünf Läuferinnen vor mir nicht gleich als Bedrohung wahrgenommen werde, und lege dann los. Beinahe unbemerkt ziehe ich an der ersten vorbei, kurz darauf an der nächsten. Ich bin an dritter Stelle, als ich die Viertelkilometer-Markierung passiere und das blaue T-Shirt vor mir sehe. In diesem Moment spüre ich, wie ein vertrautes Gefühl in mir aufsteigt, das es mir ermöglicht, alle Reserven zu mobilisieren. Meine Füße bewegen sich schneller. Wo ist dein Kampfgeist geblieben?, höre ich Emmas Stimme fragen.
» Hier! Ich hab ihn wieder!«, brülle ich, ohne mich darum zu kümmern, ob mich jemand hört, und lege noch einen Zahn zu. Etwas hat sich geändert, das kann ich ganz deutlich spüren. Während ich den Blick fest auf die beiden Mädchen vor mir hefte, hallen mir die Worte aus dem Brief durch den Kopf– Ich habe eine Möglichkeit gefunden, wie ich das, was damals falsch gelaufen ist, korrigieren kann.
Meine Konkurrentinnen springen über einen umgestürzten Baumstamm, aber ich bin dicht hinter ihnen. Ich nehme Anlauf, meine Füße verlassen den festen Boden und dann bleibe ich mit der rechten Schuhspitze an einem vorstehenden Ast hängen. Obwohl es mir gelingt, mein Gleichgewicht zu halten und auf der anderen Seite aufzukommen, ohne umzuknicken, nutzen die Mädchen, an denen ich gerade vorbeigelaufen bin, diesen Moment, um mich zu überholen.
Ich hole tief Luft und jage ihnen hinterher. Unter Aufbietung meiner letzten Kräfte quäle ich mich mit brennenden Wadenmuskeln den Hang hinauf, bis ich die beiden tatsächlich wieder überrundet habe. Kurz darauf überhole ich auch noch meine andere Konkurrentin, sodass ich jetzt auf dem zweiten Platz liege, doch der Vorsprung des Mädchens im blauen T-Shirt ist groß. Als ich die Ziellinie sehe, die nur noch wenige Meter vor uns liegt, schießt eine neue Welle von Adrenalin durch meine Adern. Ich fixiere den blonden Pferdeschwanz, der vor mir hin- und herschwingt, gebe mir einen letzten Ruck und sprinte los.
Sie ist trotzdem schneller und läuft– wenn auch ganz knapp– als Erste durchs Ziel. Nach Atem ringend wische ich mir den Schweiß von der Stirn und stütze dann die Hände auf den Knien ab.
» Hey, du bist echt gut gelaufen«, höre ich eine keuchende Stimme neben mir sagen.
Ich richte mich auf und klatsche lächelnd die erhobene Hand der Siegerin ab. » Du aber auch.«
Bei der State-Championship war ich diejenige, die sie, ebenfalls ganz knapp, geschlagen hat. Trotzdem fühle ich mich heute nicht als Verliererin. Irgendwo auf der Strecke habe ich meinen Kampfgeist wiedergewonnen und das bedeutet mir mehr als jede Urkunde.
***
Zu Hause angekommen, gehe ich in mein Zimmer und greife nach dem gelben Schnellhefter, den ich am Donnerstag nach langem Suchen unter einem Berg von Schulunterlagen gefunden habe. Ich schlage ihn auf, blättere bis zu dem Brief der Gastfamilie und betrachte
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