Zwischen uns die Zeit (German Edition)
sich räuspert und ich mich noch einmal zu ihm umdrehe.
» Sie wissen, welches Datum heute ist, Señorita Greene?«, fragt er.
Ich nicke. » Der erste Juni, Señor.«
» Exactamente.«
Ich sehe ihn verständnislos an. » Und?«
» Und das bedeutet, dass gestern der einunddreißigste Mai war.«
Ich beiße mir auf die Unterlippe und schweige betreten.
» Ich hatte wirklich gehofft, Sie würden sich dafür entscheiden, die Sommerferien in Mexiko zu verbringen, Señorita. Sie sind eine meiner besten Schülerinnen, und ich bin überzeugt davon, dass Ihnen ein Auslandsaufenthalt viel nützen könnte…«
Ich werde rot, als ich an den gelben Schnellhefter mit den Unterlagen für den Schüleraustausch denke, den er mir vor ein paar Wochen gegeben hat und der seitdem ungeöffnet irgendwo auf einem Stapel mit Schulkram in meinem Zimmer liegt. » Oh. Ich weiß. Sie hatten gesagt, dass ich mich bis Ende Mai entscheiden muss. Tut mir leid, ich… Um welche Stadt ging es noch mal?«
» Wenn ich mich recht erinnere, war sie sogar eines der Ziele auf Ihrer Mexiko-Rundreise für den Wettbewerb. Eine wunderschöne kleine Stadt namens La Paz. Bis vor Kurzem war sie noch ziemlich unbekannt, wird aber bei Touristen immer beliebter. Jetzt wäre genau der richtige Zeitpunkt, um sie sich anzusehen.«
» La Paz?«
» Sí. Der Flug ist bereits durch den Reisegutschein gedeckt, den Sie gewonnen haben. Die Kosten für die Unterbringung und den Sprachkurs übernimmt die Schule. Bestimmt haben Sie schon Pläne für die Ferien, aber ich finde, Sie sollten trotzdem noch einmal über mein Angebot nachdenken. Das ist wirklich eine einmalige Gelegenheit.« Señor Argotta lehnt sich in seinem Stuhl zurück, verschränkt die Arme vor der Brust und sieht mich abwartend an.
Ich bin hin- und hergerissen. Mexiko! Mein ganzes Leben lang habe ich davon geträumt, aus dem engen Evanston herauszukommen, und jetzt, wo sich mir endlich eine Chance bietet, zögere ich. Was, wenn Bennett es doch irgendwie schafft zurückzukommen und ich bin nicht da? Nein, ich muss hierbleiben, selbst wenn sich am Ende herausstellt, dass ich umsonst gewartet habe. Aber dann erinnere ich mich plötzlich an die Sätze, die ich vorhin in Bennetts Notizbuch gelesen habe– die Sätze, die ich ihm in sechzehn Jahren in einem Brief schreiben werde: Sag mir bitte, dass ich nicht darauf warten soll, dass du wieder zurückkehrst. Ich glaube, das wird unsere Geschichte komplett neu schreiben.
Argotta mustert mich besorgt. » Geht es Ihnen nicht gut, Señorita? Sie sehen auf einmal so blass aus.« Seine Stimme klingt gedämpft wie aus der Ferne.
» Das ist wirklich eine einmalige Chance«, höre ich mich selbst sagen.
» Und ob!«, ruft er. » Und deshalb dürfen Sie sie sich nicht entgehen lassen. Reisen Sie und sehen Sie sich die Welt an, Señorita! Lassen Sie sich von nichts und niemandem aufhalten.« Um seine Worte zu unterstreichen, schlägt er mit der flachen Hand auf den Tisch.
Ich weiß nicht, was passiert ist, als ich in einem anderen Zeitstrang schon einmal hier vor ihm gestanden habe. Ob es überhaupt zu so einer Situation gekommen ist. Vielleicht hat Argotta den Austausch nicht mehr erwähnt, nachdem ich kein Interesse gezeigt habe. Vielleicht waren sämtliche Plätze schon von vornherein vergeben. Es kann auch sein, dass sich alles ganz genau so ereignet hat wie jetzt, ich mich aber dafür entschieden habe, die Sommerferien in Evanston zu bleiben und darauf zu warten, dass Bennett zurückkommt. Ja, ich bin mir sogar ziemlich sicher, dass es so war. Dass die andere Anna hier vor Señor Argotta stand, ihm höflich für sein Angebot dankte und es ablehnte. Aber die Anna, die jetzt vor ihm steht, wird sich anders entscheiden.
» Haben Sie die Bewerbungsunterlagen denn noch?«, fragt er mich.
Ich nicke strahlend. Auch wenn ich im Moment nicht weiß, wo genau sie sind, bin ich mir sicher, dass ich sie finden werde. Auf einmal kann ich es gar nicht erwarten, nach Hause zu kommen und mein Zimmer zu durchwühlen.
» Ich gebe Ihnen noch einmal bis Montag Zeit. Aber dann brauche ich eine endgültige Antwort.«
Meine Eltern brauchen vielleicht Zeit bis Montag, aber ich nicht. Ich laufe um den Tisch herum und drücke Señor Argotta einen Kuss auf die Wange. » Vielen, vielen Dank, Señor!«
Als ich mich wieder aufrichte, sieht er etwas verdattert aus, fängt sich aber rasch wieder. » Sie werden Ihre Entscheidung nicht bereuen, Señorita.«
Das hoffe ich. Ich weiß zwar
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