Zwischenfall in Lohwinckel
an wie die zwischen Herrn von Raitzold und Herrn Profet. Das schreit ja nach einer Entladung, da müßte ja etwas geschehen, Mord, Totschlag, das Gut niederbrennen, die Fabrik in die Luft fliegen. Was geschieht? Nichts. Es sind Feinde. Fertig. In der Landstraße sind Löcher, jeden Monat ist irgendeine Unannehmlichkeit mit den Autos. Nun? Die Löcher bleiben. Die Löcher in einer Lohwinckler Chaussee sind unveränderlich. Das Rauchverbot für Gymnasiasten, das Ihr Vater vor zwanzig Jahren erlassen hat, besteht. Schon zu meiner Zeit wollten die Primaner Krach schlagen. Tun sie es? Nein. Wird Herr Apotheker Behrendt Sie jemals wieder grüßen? Nein. Wird Frau Bürgermeister Ohmann jemals wieder bei Fräulein Ritting nähen lassen, seit sie ihr vor acht Jahren das Grünseidene verschnitten hat? Nein. Es gibt hier keine Ereignisse. Es bewegt sich nichts. Wenn man aus dem Fenster sieht, wundert man sich, daß wir elektrische Laternen haben statt der ölfunzeln –«
Wirklich brannte draußen eine Laterne, gerade vor dem hochangebrachten, regenstreifigen Kontorfenster. Elisabeth schaute sanft dazu hinauf, denn die Nässe glitzerte so hübsch im Herabrinnen. Sie hatte die letzte, ironische Umbiegung von Markus' großer Rede nicht mehr recht verfolgt, sie war schläfrig geworden, mit dem leisen, glockigen Ohrensummen, das zarten und ermüdeten Menschen mit etwas zu wenig Blut den Schlaf einleitet. Markus wandte sich von der Laterne und der Lohwinckler Misere ihrem Gesicht zu, sah es einen Augenblick an und sagte dann schnell, über den ersten, nicht unschwierigen Konsonanten stolpernd: »W – wir müßten wieder mal musizieren, Frau Doktor.«
»O ja«, erwiderte sie abwesend, ohne die Laterne aus den Augen zu lassen.
»H – heute abend? Unsere Brahms-Sonate? Wir wollten sie immer mal fertig machen –« sagte er schnell.
»Heute? Nein, das geht nicht.«
»Warum –?«
»Ach – nur so. Der Doktor wird nervös sein – der Doktor wird heute keine Musik im Haus vertragen können – er hat einen Todesfall in der Praxis –«
Markus überlegte ein bißchen, warum Frau Persenthein ihren Mann immer ›den Doktor‹ nannte, so, als sei sie noch Säuglingsschwester im Spital von Schaffenburg. Markus machte sich zuweilen Gedanken über die Persentheinsche Ehe, aber er kam zu keinem ordentlichen und haltbaren Resultat. »Schön, also keine Musik. Keine Brahms-Sonate«, sagte er. »Schade. Es wäre der richtige Abend dafür. Verregnet und ein bißchen trübsinnig – wollen Sie etwas zum Lesen? Die Oktoberhefte sahen Sie noch gar nicht. Oder einen schönen neuen Roman, wir suchen etwas heraus –«
»Ja, lesen«, sagte Elisabeth, und jetzt ließ sie die Laterne endlich aus und kam mit ihrem Blick zu Markus zurück.
»Ich komme ja nicht zum Lesen«, sagte sie gleich darauf verständig. »Ich muß noch waschen heute abend.«
»Lieber Herrgott, Frau Doktor, so oft ich Sie spreche, müssen Sie waschen, was ist das für ein geheimnisvolles Laster in Ihnen?«
»Hübsches Laster! Der Doktor braucht doch so viel Wäsche für die Praxis, was denken Sie – und wir haben ja nicht so viel. Da muß eben jeden zweiten Abend gewaschen werden, Tücher, Handtücher, Kittel und all das. Da haben Sie das Geheimnis!« sagte Frau Persenthein und wurde munterer. Sie war bei dem Gedanken an Brahms-Sonaten und schöne Romane ein bißchen schlaff und sehnsüchtig geworden, aber nun sah sie deutlich die Holzbütte mit der eingeweichten Wäsche im Badezimmer unten, roch die Kernseife beinahe und belebte sich. »Ich muß jetzt heimgehen«, sagte sie, stand auf und setzte ihren Hut, den sie so lange in der Hand gehalten hatte, wieder auf. Herr Markus sah scheu zu, wie das glatte, hellbraune Haar unter der Filzkrempe verschwand. Es herrschte eine klare Sauberkeit in Frau Persentheins Gesicht, eine Ausgewogenheit der Linien, die Herrn Markus beglückte. Übrigens nahm er an, daß dieser Doktor Persenthein überhaupt nicht wußte, wie seine Frau aussah. ›Um so besser‹, dachte Markus eifersüchtig, während Frau Persenthein ihr Einkaufsnetz an sich nahm und die Hand ausstreckte.
»Also dann besten Dank – für alles – und in einigen Tagen – sobald Raitzolds an unsere Rechnung denken –«, sagte sie verlegen. Markus seinerseits genierte sich ebenfalls. »Bitte, bitte – nicht der Rede wert – kommen Sie durch den Hausflur, im Laden ist es schon finster«, sagte er. Elisabeth stolperte hinter ihm her, drei Stufen abwärts,
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