Zwischenfall in Lohwinckel
›Nicht schlecht‹, dachte Leore, aber sie zog zugleich die eigene Oberlippe ironisch hoch. Sie wußte zu viel von diesem Pitt. Sie kannte ihn zu gut und zu lange: seit achtzehn Wochen. Er tat sich auch nur groß mit seinem brandköpfigen Imperatorgesicht.
»Ihr tut mir so leid«, sagte sie auf einmal mit ihrer tiefen und brüchig vibrierenden Kleinmädchenstimme.
»Wir? Wer? Warum?« fragte Karbon.
»Ihr. Alle. Es ist nichts los mit euch –«, erklärte Pittjewitt, über sämtliche Männer abschließend.
»Danke. Besten Dank«, murmelte Pitt und riß den Wagen an dem kleinen Gebäude des Lohwinckel-Düßwalder Bahnhofs vorbei.
»Da war ein Wegweiser«, meldete Fobianke, aber Karbon schüttelte nur den Kopf, und man war schon vorüber. Die Straße wurde noch schlechter als vorher. Fobianke holte die Karte hervor und leuchtete sie mit der Taschenlampe ab, denn es war unter einer tiefen, dunklen Wolke ganz schnell finster geworden. Gleich darauf begann es auch zu regnen. Die Tropfen fielen in Streifen an den Wagenlichtern vorbei. Franz Albert zog rasch seinen Mantel über, auch Leore kroch in den ihren, sie hatte nun endgültig genug für heute. »Wie spät ist es denn? Wie lang willst du noch fahren? Ich wollte, ich säße in Berlin«, brummte sie vorwurfsvoll in ihren aufgestellten Kamelhaarkragen hinein, aber es war nicht viel davon zu hören. Die Straße ging bergauf, sie stieg so steil an, daß Peter Karbon den zweiten und schließlich leise fluchend den ersten Gang einschalten mußte. Von Geschwindigkeit war hier nicht viel die Rede. »Soll ich das Verdeck?« fragte Fobianke, den die wachsende Ungemütlichkeit beklemmte. »Das fehlt noch. Das dauert ewig. Ich gehe unter die Decke«, sagte Leore. Pitt stoppte. Sie hatten schon ihre bestimmten Gewohnheiten von vielen Fahrten her. Wenn es regnete, kam Fobianke ans Steuer, Pitt auf den Rücksitz, Leore kuschelte sich an ihn, und dann wurde die große wasserdichte Wagendecke über die Idylle gebreitet.
»Sieh mal, Pittjewitt, da sind Weingärten«, sagte Karbon, der ausgestiegen war, um mit Fobianke den Platz zu wechseln; auch Leore kroch hervor, streckte sich ein wenig, aber sah nicht hin. Die Brennesseln zu Seiten der lächerlich schmalen Straße rochen stark und herb im Regen. Vor dem Wagen lagen grelle Lichtbalken, die blendeten und alles andre noch tiefer ins Dunkel drückten. Leore fühlte sich dem bösen Abend ausgeliefert und hatte entsetzliche Sehnsucht nach Berlin. ›Schwannecke‹, dachte sie, ›Eden-Bar, Rot-Weiß-Club, Wellenbad, der Rummel bei der Gedächtniskirche –‹
»Ich möchte schlafen«, sagte sie flehend zu Peter Karbon, der sich am Straßenrand die Beine vertrat, die er nun doch ziemlich steif im Kniegelenk spürte.
»Komm, Zwerg«, sagte er sogleich. Es war Zärtlichkeit darin. Er schob seine Hand unter ihren Ärmel. »Der Kleine muß nach vorne; er ist ja geschützt hinter der Scheibe«, sagte er und wartete höflich, bis der Boxer dies erfaßt hatte.
Plötzlich nahm Leore ihren Arm an sich und schob Peters Hand fort.
»Nein. Du bleibst vorn. Ich will bei Franz schlafen«, sagte sie unerwartet. Pitt machte die Lippen ganz fest zu. ›Bitte‹, dachte er. Gott bewahre, daß er etwas gesagt hätte. Er kroch einfach auf den Vordersitz neben Fobianke, der sogleich losfuhr, und ließ die beiden da rückwärts ihr Arrangement mit der Wagendecke treffen.
Es ist nicht ohne weiteres zu sagen, ob Leore Lania in diesen jungen Boxer verliebt war; so einfache Gefühle hatte man nicht, es lag alles in Schichten übereinander und schillerte in vielen Farben. Sicher war nur, daß ein Nervenhunger sich ihrer bemächtigt hatte, seit ein paar Wochen schon und heute den ganzen Tag fast unerträglich wachsend: näher an Franz heranzurücken, seine Wärme zu spüren, zu fühlen, wie sein Rippenkorb unter seinen disziplinierten Atemzügen sich spannte und senkte; etwas von der tierhaften Unberührbarkeit dieses Körpers aufzunehmen und – wenn das möglich war – das Gesicht hervorzulocken, das fremde, andere Gesicht, das Kampfgesicht. Sie seufzte tief auf, als sie unter der Wagendecke ihre Wange an den rauhen Stoff seines Mantels legte; sie hatte Mütze und Brille abgenommen, sie war bereit, jetzt tief, tief auszuruhen, aber sie hatte dabei ein Gefühl, als beginne ihr glattes schwarzes Haar zu knistern.
Was den Mittelgewichtsmeister betraf, so war dies bestimmt die unangenehmste Situation, in die er seit Beginn seiner Boxerlaufbahn
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