Zwischenfall in Lohwinckel
allein geblieben, legte jetzt ihre Zigarre fort, die noch eine Zeitlang den Raum mit dünnziehenden blauen Rauchfäden anfüllte, und ging mit großen, bewegten Schritten auf und ab. Die alte Standuhr klirrte dazu leise mit ihren Gewichten, denn sie war unsicher postiert und ging deshalb auch nur unregelmäßig. Das Fräulein blieb vor ihr stehen und besah sie mit den gleichen, halb nachdenklichen, halb abwesenden Blicken wie kurz zuvor ihren Bruder. Es gehörte alles zusammen: daß die Uhr nicht repariert wurde, daß die Steuern nicht bezahlt werden konnten, daß zu wenig Gespanne da waren, um die Feldarbeit auszurichten und daß neuerdings sogar der Weinberg gefährdet schien – dies alles und daß Herr von Raitzold blau anlief, sobald er den Namen Profet zu hören bekam, gehörte zusammen und lastete mit dem undefinierbaren Druck von Unglück und Katastrophe über dem verwohnten Raum.
Erst eine Viertelstunde später entsann sich das Fräulein wieder des Unglücks auf der Düßwalder Chaussee, das sie im immer gleichen und drehenden Trab ihrer Sorgen sofort wieder vergessen hatte, und nach ein paar weiteren Schritten um den Tisch, nach einem kurzen Zögern an der Fensternische, währenddem sie in den regendunklen Gutshof mit seinen blaß spiegelnden Pfützen wie in eine vollendete Trübsal hinaussah, beschloß sie, nun dennoch und allen Verboten zum Trotz bei Profet anzurufen. Der junge Mann auf dem Telefonamt in Lohwinckel, Herr Munk, der die Anschlüsse herzustellen hatte, wunderte sich gebührend, als er das Gut mit Nummer 23 verband.
Zehn Minuten vorher war Doktor Persenthein an Profets Villa gelandet, dampfend von Müdigkeit und Regennässe und wütend entschlossen, diesmal der Krankheit von Profets Jüngstem auf den Grund zu kommen. Er hatte noch einen Anlauf von der ärgerlichen Auseinandersetzung mit Herrn von Raitzold über den verstorbenen Jakob Wirz und stieß in schlechtester Laune auf die umflorte und trostbedürftige Miene von Frau Profet. Frau Profet war eine breit gebaute und kurzsichtige Dame mit unruhigen Augen. Sie hatte einen überanstrengten Ausdruck in ihrem Gesicht, das sonst nicht ohne Gutmütigkeit war, und diese Überanstrengung rührte einzig von den Bemühungen her, mit denen sie etwas Inhalt in ihr bodenlos leeres Leben zu pumpen versuchte. Sie hatte keine Sorgen und war gesund – was ihr ein wenig unfein und zweitklassig vorkam. Sie besaß weder Talente noch Leidenschaften, sie erlebte nichts, weder außen noch innen. Sie spielte Klavier, sie verschluckte Bücher im Unmaß, sie fraß Menschen auf, so viele sie kennenlernte, sie machte Reisen zu Schiff und zu Lande, sie kannte – kleine Bürgerin einer Provinzstadt – drei Erdteile und vier Sprachen recht gut –, aber sie kehrte von überall her nach Lohwinckel zurück mit einer Leere in sich, die größer war als die Wüste Gobi. Frau Profet flüsterte gern, sie warf gern vielsagende Blicke, sie drapierte sich mit Melancholien. Sie hatte einen merkwürdigen Neid auf Menschen, die unglücklich waren. Sie machte Anspielungen auf große Verzichte in ihrer Vergangenheit und auf die Verzweiflung, mit einem Profet verheiratet zu sein. Herrn Profet störte das nicht im mindesten. Er klopfte ihr auf den Rücken und hielt sie für etwas Besseres als sich selber. Er seinerseits war ein einfacher, wenn auch wohlhabender Mann, der mit aller Welt in Harmonie lebte – mit Ausnahme von diesem völlig unverträglichen und vom Hochmutsteufel besessenen Herrn von Raitzold – und der sich sogar mit Doktor Persenthein zu vertragen versuchte, obwohl er diesen Mann nun wahrhaftig nicht leiden konnte.
Wann die große Feindschaft zwischen Profet und Raitzold eigentlich begonnen hatte, das konnte niemand in Lohwinckel mehr sagen, so viel Versionen darüber auch in Umlauf waren. Aber was Persenthein diesem netten und einflußreichen Profet schon angetan hatte, das lag auf der Hand: Er hatte ihm den Landesgewerbeinspektor auf die Bude gehetzt, er hatte eine kostspielige neue Staubabsaugevorrichtung durchgesetzt. Er hatte alle Fälle, die früher als Magenkatarrh gelaufen waren, für Bleikrankheit erklärt und schrieb die Arbeiter auf unverschämt lange Fristen arbeitsunfähig. Er hatte gefunden, daß Herrn Profets Blutdruck zu hoch sei, und hatte ihm Holzhacken und weniger Weintrinken verordnet. Er hatte Frau Profets wechselnde Schmerzen und Melancholien für Einbildungen erklärt, die von ihrem Übergangsalter herrührten. Und jetzt konnte er
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