Zwischenfall in Lohwinckel
unbekannte Zeit draußen unter ihrem Auto auf der Landstraße lagen. Herr Profet, der in seinen Grenzen ein großer Mann war, fand sich schneller zurecht. Er zog seinen Ledermantel an, er hatte schon nach seinem Schofför Müller gebrüllt und den Wagen aus der Garage beordert, als Persenthein noch immer dastand und überlegte, was er alles zu der Unfallstelle mitzunehmen habe. Frau Profet hatte sich mit bleicher Miene in eine Ecke gesetzt und empfand mit erhobenen und dankbaren Empfindungen, daß etwas passiert war, daß endlich auch in Lohwinckel etwas Außerordentliches geschah. Mit einemmal sah ihr Mann wie ein Mann aus, und der Doktor hatte eine so hohe und gespannte Stirn wie nie zuvor.
In Lohwinckel brauchte eine Nachricht nur zehn Minuten, um ziemlich bekannt zu werden. Die ersten Radfahrer waren schon unterwegs nach der Unfallstelle, als der Schofför Müller unten vor der Villa den Motor zum Warmlaufen anließ und Doktor Persenthein noch mit seiner Frau telefonierte: »Tetanusspritze! Eukodal! Cramerschienen!« kommandierte er in die Muschel, und jedesmal hörte er das klare, vernünftige »Ist schon hergerichtet!« seiner Frau. »Ich bin bereit, die Verwundeten bei uns aufzunehmen«, flüsterte Frau Profet im Hintergrund und fühlte sich selber wie eine Romanfigur. »Cardiazol! Ich habe kein Cardiazol im Haus!« schrie Persenthein ins Telefon.
»Ist schon da. Ich war bei Behrendt und hab's geholt«, sagte Elisabeth drüben im Angermannshaus. »Du bist brav!« schrie der Doktor laut.
»Soll ich mitkommen?« fragte es drüben nach einer Viertelsekunde.
»Nein. Aber richte dich ein –«, schrie er noch und rannte hinter Herrn Profet die Treppen hinunter. Er wußte selber nicht, auf was die Frau sich einzurichten hatte, er spürte nur, daß er sie brauchte und daß sie da sein mußte und auf ihn warten, was immer geschah.
Die Stille, die den Jungen vom Gut so erschreckt hatte, empfing auch den Doktor an der Unfallstelle, und sie wurde noch tiefer durch das gleichmäßige Regenrauschen auf den Buchenblättern des Forstes. Die Autolichter rissen eine scharfe Helligkeit in den vermummten Abend, und was sie zeigten, sah so aus:
Der Wagen lag noch umgestürzt, zur Hälfte auf dem Sommerweg, zur Hälfte im Graben. Die Windscheibe war zersplittert, sonst sah man nicht viel Schaden. Auf einem Baumstumpf saß ein junger Mensch mit beschmutztem Gesicht – es war Franz Albert –, der mit den Armen um sich schlug wie gegen unsichtbare Stricke und stöhnte. Um ihn war Herr Raitzold bemüht, der zehn Minuten vor Herrn Profets Auto zur Stelle gewesen war. Etwas seitab stand sein Wagen, und der Gutsjunge hielt die nervösen Pferde am Zaum. Peter Karbon saß im Gras, den Rücken an einen Baumstamm gelehnt; mit dem Kopf auf seinen Knien lag mit geschlossenen Augen Leore Lania, ihr Gesicht war fast unkenntlich durch Blut, und von Zeit zu Zeit quoll es frisch und feucht aus einer Wunde über ihrem Mund. Auch die kleine Mütze, die sie krampfhaft in der Hand hielt, war blutgetränkt, als hätte sie damit das Fließen stillen wollen.
»Liegt noch jemand unter dem Wagen?« fragte Persenthein. Raitzold verneinte nur durch ein Kopfschütteln. Er und Herr Profet hatten sich mit der Höflichkeit zweier Duellanten gegrüßt. »Ich halte das nicht aus, ich halte das nicht aus –«, stöhnte Franz Albert; Doktor Persenthein sah kurz, aber aufmerksam hin und überließ ihn vorläufig dem Gutsbesitzer. Erst jetzt bemerkte er den Schofför Fobianke, der etwa acht Meter vor seinem umgestürzten Wagen am Grabenrand lag, ein Bein etwas an den Leib gezogen und die Tweedjacke geöffnet. Der Arzt beugte sich über ihn und leuchtete ihm mit der Taschenlampe in das Gesicht, das völlig weiß war, weißer als ein leeres Blatt Papier.
»Haben Sie Schmerzen?« fragte er.
»Nein. Danke«, sagte Fobianke leise und höflich. »Jetzt ist es besser.«
»Sie haben Ihren Rock aufgemacht, tat es da weh?« fragte Persenthein und tastete den Leib des Mannes ab. Fobianke dachte nach. »Nein –«, sagte er leise, es klang wie eine Frage.
›Innere Verblutung, Leberruptur wahrscheinlich‹, dachte Doktor Persenthein. ›Nichts mehr zu wollen. Vielleicht – wenn ich jetzt gleich hier eine Bluttransfusion machen könnte – ich brauche den Apparat doch – zweihundertdreißig Mark‹ – dachte er, während er dem ausgebluteten Schofför eine Cardiazol-Spritze gab. »Es wird gleich besser sein – wir legen Sie in den Wagen – los,
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