Zwischenfall in Lohwinckel
nicht einmal herausfinden, weshalb der Junge schon am Morgen beinahe vierzig Grad Fieber hatte.
Als Doktor Persenthein an diesem Abend seinen Eiertanz im Hause Profet begann – denn so nannte er im stillen seine Besuche hier –, fand er den Jungen im Bett und mit dem Bau eines Flugzeugmodells beschäftigt. Es war ein hübscher zwölfjähriger Bengel mit blanken Augen, einer kurzen, kecken Nase voll Sommersprossen und einem kleinen Sprachfehler, der ihm etwas Kindliches gab. Er schaute dem Doktor beflissen, zutraulich und hoffnungsvoll in die Augen. Persenthein kannte diese Blicke. So sahen Jungens ihre Lehrer an, wenn sie einen dicken Schwindel vorhatten.
Frau Profet hatte eine weiße Schwesternschürze umgetan, sie ging nur auf den Zehenspitzen und fiel dem übermüdeten Doktor Persenthein herzlich auf die Nerven mit ihrem Getue.
»Temperatur um fünf Uhr?« fragte er.
»Ja. Er hat wieder mehr. Neununddreißig – sechs«, flüsterte Frau Profet. »Sosososo –«, sagte der Doktor nur, der schon den gesunden, normalen Puls des Jungen unter den Fingern hatte. »Na – laß mal sehen«, setzte er hinzu und schlug die Decke zurück. »Wo ist denn der Große?« fragte er während er den Leib des Jungen zu perkutieren begann. »Besprechung wegen Fußballspiel – so? Ich denke, Putex will's nicht mehr erlauben? Wie? So – jetzt atmen, noch mal – nicht sprechen – tut's hier weh? Ja? Und hier? Gar nicht? Paß mal genau auf – tut's hier gar nicht weh? Aha – doch. Na siehst du –«
Doktor Persenthein blieb vor dem entblößten, mageren, braunen Bubenkörper sitzen und überlegte. Der blaue Fleck in der Leistengegend, wo er beim letzten Spiel getroffen worden war, hatte sich schon verfärbt, spielte in ein abblassendes Gelb und hatte gar nichts zu bedeuten. Daß der Junge gesund war, schien klar; daß er simulierte, lag auf der Hand. Aber wie bekam er das Fieber zustande, zum Teufel? »Wollen mal messen«, sagte Persenthein. Der Junge schluckte hinunter. »Schmerzen beim Schlucken?« fragte Persenthein. »Ich weiß nicht recht –«, sagte der Junge. Frau Profet seufzte tief. Herr Profet, in Hausschuhen, kam aus dem Nebenzimmer herbei und fragte laut: »Na, Doktor, haben Sie endlich die Diagnose am Wickel?« Persenthein spielte ein wenig mit dem Flugzeugmodell, ohne Antwort zu geben. Frau Profet legte den Finger an den Mund. »Er wird gemessen«, flüsterte sie im Ton einer tragischen Verschwörung. Herr Profet schlurfte gutmütig wieder ab. »Ich bin ein besserer Profet als Sie«, sagte er; es gehörte zu seinem Lebensglück, solche Späße mit seinem Namen anzustellen, die in Sparkassen- und Stadtratssitzungen großen Erfolg zeitigten.
»Na also –«, sagte Persenthein, als das Thermometer ganz ordentlich bei 36,6 stehengeblieben war, »ich denke, er wird morgen wieder zur Schule können.« Paulemann bekam im gleichen Augenblick Tränen in die Augen. Zur Schule wollte er nicht. Er lag hier nicht für nichts und wieder nichts im Bett und aß Grießbrei dreimal am Tage. Ihm waren Klassenkeile angedroht worden, weil er sich unfair benommen hatte. Sogar sein großer Bruder ließ ihn im Stich und Kolk, sein Schutzpatron aus der Obertertia. »Mir ist aber so schlecht«, sagte er noch, und das war kaum gelogen.
»Paulemann, Paulemann –«, begann Doktor Persenthein; er war wütend auf den Kleinen, aber von Zeit zu Zeit besann er sich auf den freundlichen Ton, der einem Hausarzt geziemte. »Wir werden ja sehen, was mit deinem merkwürdigen Fieber los ist –«, sagte er noch, als Herr Profet hereinkam und ihn ans Telefon rief.
Kaum war der Doktor draußen und Paulemann allein, als er das Thermometer hervornahm und es in seine Tasse mit heißer Limonade hielt. Das Quecksilber stieg, so hoch es konnte, bis dreiundvierzig – was dem Jungen übertrieben vorkam. Er klopfte hastig daran herum, aber es wurde nicht weniger; schließlich nahm er es wieder in die Achselhöhle und erwartete mit leidender Miene das Weitere.
Aber diesmal kümmerte sich niemand mehr um Paules außergewöhnliche Fieberkurven. Doktor Persenthein, von Fräulein von Raitzold in kurzen Worten über das Unglück auf der Düßwalder Chaussee verständigt, sauste nur ins Zimmer herein, riß seine Tasche an sich, und dann stand er mit zusammengebissenem Gesicht da und versuchte zu disponieren. Obwohl er im Krieg gewesen war, verlor er für fünf Minuten den Kopf bei dem Gedanken an eine unbekannte Anzahl von Sterbenden, die eine
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