Zwischenfall in Lohwinckel
Müller, vorsichtig –«, sagte er und trug, unterstützt von dem Schofför, den Mann zu Profets Auto. »Danke. Mir ist schon wieder gut«, sagte Fobianke leise. Er atmete ganz oberflächlich mit eingezogenem Zwerchfell. »Wie haste denn das geschafft? In'n Grawwe gefahre?« fragte Müller im Dialekt der Gegend. Fobianke schaute ihn lange und verwundert an. »Nee –«, sagte er viel später.
Herr Profet hatte mit Mißfallen beobachtet, wie der Doktor sich zuerst um den Schofför bemühte, und näherte sich indessen Peter Karbon. »Sind Sie verletzt?« fragte er töricht. »Scheint so«, erwiderte Karbon zwischen den Zähnen. Er hatte verdammte Schmerzen und war völlig außerstande, den rechten Arm zu bewegen. Außerdem drehte sich alles um ihn in sinnverlassener Weise. »Ist das Ihr Wagen?« fragte Herr Profet weiter, ohne Antwort zu bekommen; Karbon hatte sich über Leores Gesicht gebeugt, unfähig, das dünn sickernde Blut dort zu stillen. »Die Frau Gemahlin? Ich werde sofort dem Doktor sagen – zuerst muß natürlich die Dame – ich verstehe gar nicht, warum er zuerst den Schofför – wir bringen die Herrschaften dann in meinem Wagen gleich zu uns –«, sagte Herr Profet. »Gestatten: Profet. Ich habe da die Fabrik in Lohwinckel«, setzte er noch hinzu. »Karbon –«, murmelte Karbon mit angestrengter Korrektheit, ohne daß Profet zunächst den bekannten Namen erfaßt hätte. Er ging zum Wagen zurück, in dem jetzt Fobianke auf den Rücksitz gebettet war. Persenthein hatte ihm für alle Fälle noch seine Tetanusspritze gegeben, und nun lag er friedlich da, schaute zu dem Wagendach hinauf, und alles wäre gut gewesen, wenn nicht immer wieder Schwarzes und Schwarzes an seinen Augen vorübergetrieben hätte. Auch war wenig Luft in der Limousine. Profet wandelte an Herrn von Raitzold vorbei, als wenn der unsichtbar gewesen wäre, tippte den Doktor auf die Schulter und sagte: »Kümmern Sie sich doch zuerst um die Dame.«
Persenthein sah ihn nur an, und er zog sich wieder zurück.
Plötzlich bekam Franz Albert auf seinem Baumstumpf so etwas wie einen Anfall, gerade als der Arzt mit der Tetanusspritze sich ihm näherte. Sein Stöhnen war in lautes Weinen und Schluchzen übergegangen, zuletzt in das unbekümmerte und hemmungslose Geschrei eines kleinen Kindes: »Ich halte das nicht aus, ich halte das nicht aus, ich halte das nicht aus!« schrie er aus voller Kehle, ungezähltemal hintereinander. Persenthein befühlte und betrachtete den jungen Boxer, der weinend um sich schlug und den ratlosen Herrn von Raitzold in Sorge versetzte. Es war ein Nervenschock und sonst nichts.
»Kommen Sie. Können Sie mit anfassen?« fragte der Doktor energisch, aber Franz Albert fuhr fort zu weinen. Er hatte eine Beule über dem linken Auge, mehr nicht. »Schreien Sie nicht so«, sagte Persenthein scharf. »Sie bekommen gleich etwas. Setzen Sie sich erst mal in den Wagen.«
Und wirklich, während Persenthein schon bei Karbon war und neben der Schauspielerin hinkniete, stand der Boxer von seinem Baumstumpf auf und wanderte laut weinend und klagend zu Herrn Profets Auto.
»Sie ist ohnmächtig, aber sie atmet«, sagte Karbon zu Persenthein, der zum drittenmal die Tetanusspritze füllte; er sagte es viel zu laut, weil er in einem dunklen Sausen saß und keine Entfernung abschätzen konnte.
Plötzlich sprach Leore etwas, es kam undeutlich und behindert aus ihrem verwundeten Mund, aber sie schien aufmerksam und wach trotz geschlossener Augen. Persenthein, geübt, die intermittierende Sprache von Schwerkranken und Sterbenden zu verstehen, verstand.
»Ich bin gar nicht ohnmächtig«, flüsterte sie nämlich unter Weglassung aller Labiallaute, und das klang zäh und eigensinnig. Sie zuckte zusammen, als sie den Einstich der Spritze spürte, aber sie war weit davon entfernt zu klagen. Als sie den Kopf des Arztes mit seiner lebendigen und hilfsbereiten Wärme nah vor ihrem Gesicht fühlte, vertraute sie ihm in plötzlicher Schwäche etwas an. »Ich verblute nur«, flüsterte sie an seinem Ohr. Sie gehörte zu jenen zarten und zähen Menschen, denen jede Art von körperlichen Leiden als etwas Beschämendes erscheint, das tief verborgen werden muß vor den andern, den Starken, den Gesunden. Auf einer Landstraße zu liegen und zu verbluten, empfand sie als eine niederträchtige Niederlage. Sie war schon dabei, Haltung zu bewahren und ihrem Abgang eine anständige Haltung zu geben.
»Unsinn – verbluten«, sagte Persenthein.
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